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Martin Andreas Walser

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Jeanne Hersch, die Diskussion über den »Service public« und der Zustand der Schweiz

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An Tagen wie diesen muss ich an ein langes Gespräch denken, das ich einst mit der Philosophin Jeanne Hersch führte. Ich hatte mich gefürchtet davor (mit einer Philosophin führt man ja keines der üblichen Interviews), weil ich mich ihr intellektuell unendlich unterlegen fühlte. Das Gespräch sollte mindestens eine Stunde dauern und später im damaligen »Radio Thurgau« ausgestrahlt werden. Nächtelang hatte ich mich, wie es sich gehört, darauf vorbereitet und unter anderem mehrere ihrer Bücher gelesen. Dabei war mir neben vielen sehr gescheiten Gedanken einer besonders aufgefallen, den ich im Umfeld all des Überlegenswerten als ziemlich nebensächlich empfand. Es sei eine Schande, schrieb sie nämlich sinngemäss, dass wir als reiches Volk es zuliessen, unser Fernsehen und Radio (mindestens teilweise) mit Werbung zu finanzieren, wir müssten es uns leisten (denn wir könnten es), auf diese Einnahmen zu verzichten.

Wir haben lange darüber gesprochen. Ich habe mich damals gewundert, mit welcher Intensität, mit welcher Bestimmtheit Jeanne Hersch ihren Standpunkt vertrat. So energisch wie in diesem Punkt reagierte sie bei keinem der anderen Gesprächsthemen.

Warum ich mich ausgerechnet jetzt wieder daran erinnere?

Wohl deshalb, weil nach dieser Gebührenabstimmung die »Service public«-Diskussion zum Hauptproblem der Schweiz hochstilisiert wird. Das kann ja heiter werden, wenn die Politik darüber bestimmen will, was genau dieser Service zu umfassen hat! Gewisse Positionen werden bereits sichtbar (Kunststück: vor den Wahlen!): diese nationale Radio- und Fernsehgesellschaft an sich ist bedenklich, ihre Programme sind es, das viele Geld, das sie » völlig falsch« einsetzt, alles ist je nach eigenem Standort zu links- oder zu rechtslastig, Internet gehört nicht zum Service (»das können die Privaten besser«), und so weiter und so fort. Und es wird weitergehen: all die Lobbyisten, die Vertreter aus Wirtschaft, Verbänden, von Interessengruppen und so weiter werden sich hinter den Kulissen für ihre Belange stark wollen, und die PR-Berater werden dafür zu sorgen haben, dass »das Volk glaubt«. Verlierer werden die Minderheiten sein, alle Minderheiten in diesem Land – und damit die Vielfalt.

Ich muss betonen: Ich bin wahrlich kein bekennender Fan, kein glühender, kritikloser Verehrer von SRF (was vielerorts weiterhin als SRG bezeichnet wird) und ich schalte den Fernseher nur noch vergleichsweise selten ein (generell, nicht auf die Schweizer Programme bezogen), höre jedoch gerne und zunehmend »leidenschaftlicher« Radio (nicht – mehr – die »Privaten«). Doch obwohl ich längst nicht alles gut finde, was SRF tut (und lässt): Mir graust vor dieser rein politischen »Diskussion« um den »Service public«.

Es wird darum gehen, »Geld zu sparen« und nicht etwa darum, (weiterhin) das inhaltlich beste Radio und Fernsehen zu machen, das mit den zur Verfügung stehenden Mitteln möglich ist. Da liegt es auf der Hand, was gefordert wird: Weg mit den zweiten Programmen im Radio zumindest (Kultur gleich Minderheit, »lohnt/rechnet sich nicht«), zurückfahren zum Beispiel der Aufwendungen für die italienischsprachige Schweiz (»so viel Geld für so wenig Menschen – das können wir nicht länger hinnehmen«), von der Berücksichtigung des Romanischen ganz zu schweigen, es wird rundherum »Ausgewogenheit« und in jeder Hinsicht verlangt werden, es sei SRF alles zu untersagen, wird man fordern, »was die Privaten besser können«. Diese Liste ist fast beliebig erweiterbar (so kurz vor den Wahlen ohnehin!). Das Resultat wird sein, sollten sich die Totengräber durchsetzen: dumpfer Mainstream. Und den, wenigstens den, bringen die »Privaten« wahrlich besser in den Äther und auf die Bildschirme.

(Und: Dass »Information« gratis zu sein hat, dies glauben wir. Aber wie werden wir »gratis« informiert? Und worüber genau denken jene, die Print-Medienhäuser, nämlich nach, die diesen Irrglauben mit begründet haben?)

Ich bin immer wieder beeindruckt, wie viel Meinungsvielfalt in den deutschen öffentlich-rechtlichen Programmen möglich ist. Ich teile jene Ansichten wahrlich nicht immer! Aber ich denke über die Standpunkte nach! Und das sollten wir doch beherrschen (oder lernen) in unserem Land der Minderheiten, der unterschiedlichen Kulturen und Sprachregionen, der Städte und der Dörfer, der Berge, der Ebenen, der direkten Demokratie! Jedoch: Wie kleingeistig, wie engstirnig sind wir geworden! Wie egoistisch! Wie intolerant! Und wie leicht lassen wir uns von jenen verführen, die das Sagen haben wollen! Jedes Hüsteln kann bereits als ungehörig empfunden werden, jedes Wort als »unausgewogen« harsche Kritik hervorrufen.

Und wir übersehen zudem geflissentlich, wie viel aufwändiger es in unserem viersprachigen Land ist, Radio und Fernsehen zu machen als anderswo (wenn aber die Werbeindustrie jammert, die Produkte seien bei uns teurer, weil sie in drei Sprachen beworben werden müssen, scheinen wir dies zu schlucken). Wir trennen uns also sukzessive davon, wofür wir uns früher rühmten: dass wir ein Land, ein Volk sind, in dem die Minderheiten ebenfalls ernst genommen werden. Dies ist von allem das Schlimmste: dass zum Schluss nur noch die vermeintliche »Mehrheit« das Sagen hat. Weg also mit allem, was wahrscheinlich oder offenkundig »nur wenige Menschen« interessieren könnte. Bloss, um »Geld zu sparen« und »Ausgewogenheit« durchzusetzen.

Wie schändlich!

Was Jeanne Hersch mit ihrer energischen Einrede gemeint hat, ist somit in meinen Augen noch viel schlimmer, als sie ahnen wollte: Die, berechtigte, Sorge geht nicht nur dahin, dereinst könnten ausschliesslich die Werbegelder unsere Programme bestimmen, sondern es könnte diese diffuse »Mehrheit« die Macht übernehmen. Wenn ich sehe, wie viel Geld und Einfluss (am liebsten im Verborgenen) jene aufzubringen und einzusetzen gewillt sind, die sich eine Mehrheit schaffen wollen, steigert sich diese Befürchtung in mir zum blanken Entsetzen vor der Zukunft.

Wir sollten den Zaun nicht zu weit machen, wurden wir einst ermahnt – aber wir sollten auch nicht zulassen, dass man unseren Geist immer mehr einengt.

 

PS: Wie sie endete, diese Begegnung mit Jeanne Hersch? Sie beschimpfte nach unserem Gespräch meinen damaligen Zeitungsverleger vor meinen Augen und Ohren massiv, weil er mich nicht zum anschliessenden Abendessen mit ihr eingeladen hatte. Dies sei (sie brauchte kräftigere Worte) absolut unanständig, sie hätte gerne »mit diesem sympathischen jungen Mann« weiter debattiert. Ich fühle mich noch heute geehrt.

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