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Martin Andreas Walser

Da draussen wird wieder marschiert!

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Hörst du das?, in den Raum gewispert, der Staub tanzte im wenigen Sonnenlicht, das durch das undichte, schmutzige Fenster drang: Hörst du das? Aus dem Bett geschnellt mitten im Akt, ans Fenster geeilt, den Vorhang vorsichtig zur Seite gedrückt, um hinaussehen zu können: Sie marschieren wieder! Da draussen wird wieder marschiert. Wie ehedem.

Siehst du sie?, fragte ich und bewunderte, während ich mich auf den Rücken gedreht und das Kissen in den Nacken geschoben hatte, Kassandras nackten Körper. Wie lange hatte ich mich nach diesem Moment gesehnt! Und nun das! Ihr schulterlanges, dunkles Haar schwang hin und her, als sie den Kopf schüttelte: Nein, aber ich höre es! Hörst du es denn nicht auch?

Ich verneinte: Komm wieder ins Bett, lass uns das Leben und die Liebe geniessen.

Dazu, wandte sie sich mir zu, ist jetzt keine Zeit. Kassandra eilte zum verschlissenen Sofa, auf dem unsere Kleider in einem wirren Haufen lagen und begann sich anzuziehen.

Was tust du da?

Ich muss weg, wir müssen weg! Sofort! Wir müssen sie warnen!

Wen?

Die Menschen! Alle!

Sie existiert nicht, die Bedrohung, versuchte ich sie zu beschwichtigen.

Doch es half nichts. Rasch! Sie warf mir meine Hose, mein Hemd zu: Beeile dich! Sie kommen näher und näher. Und fuhr fort, als ich mich noch immer nicht rührte: Erkennst du sie denn nicht, die Gefahr? Oh, natürlich, du hast sie ebenfalls genossen, die Droge, mit der sie uns ruhig gestellt haben. Sie heisst Vergnügen, Spass, Konsum, was immer du willst: Brot und Spiele, die gefährlichste Droge, die existiert! Erwache aus deinem Rausch! Bevor es zu spät ist!

*

Wir sollten das melden, sagte der dünne Jüngere zum dickeren Älteren. Sie hatten gebannt auf den Bildschirm gestarrt. Verständlich: die junge Frau, von der sie bloss wussten, dass sie Kassandra hiess, war wunderschön. Und sie war nackt. Und sie und der Mann, von dem sie noch nicht einmal den Namen kannten, waren eben noch in ein heisses Liebesspiel vertieft gewesen. Die Situation ist derart klar und eindeutig, wie sie im Lehrbuch steht: staatsfeindliche Umtriebe, die Vorbereitung eines Aufstands, eine Keimzelle des Terrors gegen unser Land, unsere Regierung, unsere Werte. Der Ältere nickte und griff zum Telefon.

*

Ich glaubte ihr nicht, sagte er, und ich schäme mich. Verstehst du? Mein Gewissen. Es lässt mich nicht zur Ruhe kommen: Wäre alles anders gekommen, hätte ich ihr geglaubt?

Niemand weiss, versuchte ich ihn zu trösten, ob sich das Unglück hätte abwenden lassen.

Doch, beharrte er, doch: Jemand hätte damit beginnen müssen: Mut zu zeigen, die Stimme zu erheben.

(Aus einer noch namenlosen, unvollendeten Geschichte; (c) 2015, Martin Andreas Walser)

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