schrei-b-log

Martin Andreas Walser

Kassandras Ruf – ein Zwischenhalt

| Keine Kommentare

Jede Geschichte, die ich schreibe, führt zur nächsten, die vorhergehende bedingt die folgende oder fördert sie zutage, habe ich gelernt zu spüren und zu fühlen. Oder verhindert sie. Nicht in dem Sinne, dass das danach zu Schreibende und zu Sagende gänzlich verunmöglicht würde, sondern: dass mit dem Nachfolgenden unter Umständen einige Zwischenhalte ausgelassen bleiben, über die zu berichten durchaus ebenfalls reizvoll gewesen wäre. So bin ich, nach und mit »deinSein«, auf Kassandra gestossen.

Sie war da. Aus dem Nichts aufgetaucht. Sie erschien mir, ohne dass ich mir zu diesem Zeitpunkt in der noch nicht allzu fernen Vergangenheit überhaupt bewusst war, worauf ich mich einlassen würde.

Kassandra nahm Gestalt an, weil dieser Felix Amboden in »deinSein« sich beharrlich weigerte, sich über den eigentlichen Grund für seine Trennung von Lydia zu äussern. Als ich mich eingehender damit beschäftigte, weshalb er davor zurückschreckte, und damit ich, der Erzähler, wurde mir in der Abgeschiedenheit meiner Tessiner Schreibstube, die zunehmend zum Studier- und Denkrefugium wird, bald einmal klar, dass sich mit ihm mein bisheriger Blick auf das Schicksal des Einzelnen verabschiedet haben könnte, der mich bislang beschäftigt und bewegt hatte.

Dass es somit diesmal nicht um ein Einzel-, sondern um ein kollektives Schicksal ginge, das nicht bloss zu beschreiben und auszubreiten wäre, sondern das es zu beweinen geben könnte.

Und dass die bislang nie versiegte Hoffnung auf eine glückliche Fügung allenfalls ausbleiben könnte.

Kassandra mag mir nicht ohne Grund erschienen sein

Kassandra mag mir nicht ohne Grund erschienen sein. Ein Blick auf die jüngsten Ereignisse könnte vielmehr zum Schluss verleiten, dies läge auf der Hand: Kassandra sei im Zusammenhang mit dem jüngsten Kapitel der griechischen Tragödie (wieder) in mein Bewusstsein getreten.

Mich allerdings hat ihr spontanes Erscheinen überrascht, ja, völlig unvorbereitet getroffen, nachdem ich in meiner Schulzeit, was ausser mir kaum jemand weiss, der griechischen Mythologie ziemlich abweisend, um nicht zu sagen: desinteressiert, gegenübergestanden hatte (und wohl, trügt mich die Erinnerung nicht, auch ein wenig ratlos). Es sei dies gebeichtet – und auch jenes: dass mich diese Figur nicht zuletzt zum Werk von Christa Wolf hinführte, von dem ich bislang ziemlich unberührt geblieben war.

Mein Wille, mein Bemühen allein wird diesmal nicht genügen

Trotz der Erfahrung der letzten Jahre, dass alles, was ich jeweils einer abgeschlossenen Geschichte folgen lassen will, sich als noch schwieriger zu realisieren erweist als das Vorangegangene, habe ich mich gleichwohl mit grosser Begeisterung und voller Hoffnung und Zuversicht kopfüber in die Arbeit gestürzt, zumal das Feuer, das ich spürte, dem Drang, der Überzeugung entsprang, das Motiv des Sehens in das Zentrum einer nächsten Geschichte stellen zu wollen – nachgerade: zu MÜSSEN.

Skizzen, einzelne Kapitel entworfen hatte ich schnell, sie überarbeitet, und, was sich dabei ansammelte bis hierhin, also noch in den ersten Wochen oder nunmehr Monaten der Beschäftigung mit dem Thema steckend, bereits mehrmals über den Haufen geworfen, neu geordnet, ergänzt, gestrichen oder für eine allfällige »spätere Verwendung« beiseitegespeichert.

Und habe schnell gemerkt: mein Wille, mein Bemühen allein wird diesmal nicht genügen. Nicht, weil ich in mir die Absicht getragen hätte, Kassandra, ihre Person, ihr Leben, ihre Bedeutung, ihr Scheitern nachzuzeichnen und alleine deshalb langwierige und detaillierte Studien und Recherchen zur griechischen Geschichte und Mythologie unabdingbar wären.

Sondern weil mich die Thematik »Sehen«, der Umstand, dass die daraus resultierende Erkenntnis nicht gehört wird, nicht gehört werden will, ja: dass die »sehende« Person gedemütigt, verfolgt, versklavt, getötet wird, einer vertieften Betrachtung ruft. Was einschliesst, zum Beispiel, nachzulesen, zu welchen Überlegungen und Gedanken und Folgerungen dies bei jenen vor mir geführt hat, die sich mit Kassandra beschäftigten.

Man mag dies trotzdem Recherche nennen, doch geht das Forschen viel weiter, denn es schliesst das Erforschen des eigenen Denkens sowohl ein, als auch die Reflexion über das dem Denken Entsprungene, das ich lese. Und die Überlegungen setzen nicht erst bei der Frage ein, was geschähe, würde die »sehende« Person ihre Ängste, Befürchtungen, ihre Erkenntnisse öffentlich machen wollen.

Wie wir auf Schwarz oder Weiss getrimmt werden

Am Beispiel dieses Jahres und seiner Ereignisse stellt sich vielmehr die Beklemmung, das Entsetzen bereits ein, führt man sich vor Augen (denn diesmal geschah dies ganz offen und unverblümt), wie wir auf Schwarz oder Weiss getrimmt werden sollten (oder, die grässlichste der Ängste: wurden), und wie bereits geschrien und getobt wird, soll noch nicht einmal ausgeführt werden, wohin, wie man glaubt, erkannt zu haben, das führt, sondern sich lediglich auf Grauabstufungen zwischen den Polen einigen will – oder sich wünscht, dass alle oder viele oder doch wenigstens einige Mitmenschen ihr Denkvermögen nutzen.

Und man könnte sich fragen, ob es überhaupt noch einen Sinn macht, dem etwas entgegensetzen zu wollen. Christa Wolf, noch zu Zeiten des Kalten Krieges und mit Blick auf das Wettrüsten in Ost und West, sagte 1982 in der dritten ihrer Frankfurter Poetik-Vorlesungen, was man durchaus als eine Art Antwort auf die obige Frage lesen kann: »Sich den wirklichen Zustand der Welt vor Augen zu halten, ist psychisch unerträglich. In rasender Eile (…) verfällt die Schreibmotivation, jede Hoffnung, „etwas zu bewirken“. Wem soll man sagen, dass es die moderne Industriegesellschaft, Götze und Fetisch aller Regierungen, in ihrer absurden Ausprägung selber ist, die sich gegen ihre Erbauer, Nutzer und Verteidiger richtet: Wer könnte das ändern.«

Doch umgekehrt und irgendwie tröstlich (in derselben Vorlesung): »Schreiben ist auch ein Versuch gegen die Kälte.«

Ob Hoffnung besteht

Und es stellt sich mir sehr energisch die Frage, ob Hoffnung besteht, sie spüre ich trotz aller Besorgnis, sehr schüchtern indessen, aufkeimen, »meine« Kassandra könnte dem scheinbar sicheren Tod entgehen – und gehört werden. Nur dadurch, denke ich, bestünde eine langfristig wirkende Hoffnung für diese Welt: Lernten wir endlich wieder hören, statt, angetrieben von Vorurteilen, von Angst und Hass durchdrungen und von all den falschen Propheten beeinflusst, die uns ständig eine rosa Brille aufzusetzen versuchen, die Ohren zu verschliessen, zu verhöhnen, zu verurteilen, zu töten.

(Zitate aus: »Christa Wolf: Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra. Frankfurter Poetik-Vorlesungen«, suhrkamp taschenbuch 4053)

Hinterlasse eine Antwort