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Martin Andreas Walser

Die Lücke im Gedächtnis

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Gestern habe ich in einem meiner Regale ein Buch entdeckt, von dem ich selbst nach längerem Grübeln nicht weiss, wie und bei welcher Gelegenheit es in meinen Besitz gelangt ist. Dass es aber mir gehören muss und ich es nicht einst ausgeliehen, aber nie zurückgegeben habe, erkannte ich beim Aufschlagen: Mein damaliger Stempel prangt auf der ersten Seite. Mindestens zwanzig Jahre müssen seither vergangen sein, denn es wurde seit inzwischen die Strasse umbenannt, an der ich die ganze Zeit wohnte, und es hatte die Post zuvor oder danach ihre Zustellkreise angepasst; bei der Postleitzahl im Stempel handelt es sich also um die längst nicht mehr gültige.

Ich hatte nicht nach dem Buch gesucht, man kann nicht nach einem Buch suchen, von dem man nicht weiss, dass man es besitzt, aber es versprach, dem Titel nach zu schliessen, mir Informationen (nicht «Wahrheiten«), nach denen ich suchte. Offensichtlich hatte ich den Band bei meinem kürzlichen Umzug exakt dort eingefügt, wohin es thematisch gehörte, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Es handelte sich somit offensichtlich um ein Buch, dessen Anwesenheit mich beim Ein- und Auspacken keineswegs überrascht hatte.

Als ich es in Händen hielt, völlig ratlos darüber, wie es in meinen Besitz gekommen war, fühlte ich mich um ein Stück meiner Vergangenheit, meiner Geschichte beraubt, weil mir jede Erinnerung an die Umstände und den Grund des Erwerbs fehlte. Das geschieht mir selten. Normalerweise erinnere ich mich an dieses oder jenes Detail, das mit dem Kauf in Zusammenhang stand, an den Ort etwa, an dem ich es erworben habe oder an die Buchhandlung, in der ich es entdeckte, oder es öffnet sich ein Fenster in meiner Erinnerung, das mir einen Blick auf die damalige Begeisterung für den Verfasser oder das Thema, auf jemanden aus meinem Freundes- oder Bekanntenkreis öffnet, der es mir empfohlen hatte, oder das Gedächtnis lässt mich auf diesen bestimmten meiner relativ häufigen, euphorischen Momente blicken, in die hinein ich mich in Buchhandlungen oft steigere, sodass ich, obwohl ich mir vorgenommen hatte, mich bloss kurz umsehen zu wollen, den Laden jeweils mit einem ganzen Stapel Bücher verlasse. Aber in diesem Fall wollte und will sich nicht der geringste Hinweis einstellen, wie dieses Buch und ich zusammengekommen sind.

Ein Detail meiner Lebensgeschichte, vielleicht ein unbedeutendes, eventuell ein gewichtigeres, scheint unwiderruflich verloren.

Ein schwacher Trost: Viele kleinere und grössere Begebenheiten, Ereignisse, Entwicklungen gehen in unserem heutigen, diesem aufgeregten, hektischen, oberflächlichen Leben verloren, Zutaten, die aus dem platten Bild das plastische Relief des Lebens entstehen lassen würden. Als mittlerweile biologisch älterer Mensch wünschte man sich oft, das Bild der Vergangenheit oder der Gegenwart fiele differenzierter aus. Indessen: Was sich heutzutage nicht auf die Schnelle im Internet finden lässt, hat niemals stattgefunden, niemals existiert. So scheint es oft. Wie ich über den Erwerb dieses Buches aufgrund der Lücke in meinem Gedächtnis nichts sagen kann, scheinen also unzählige Facetten des realen Lebens vergessen zu gehen, weil sie im «elektronischen Gedächtnis» nicht gespeichert sind. Nicht gespeichert unter Umständen hier, anders als im vergesslichen Hirn, gar absichtlich. Was das diffuse Bedauern zur real schmerzenden Bedrohung, zur Angst der unkontrollierbaren, kaum zu beweisenden, geschweige denn zu ahndenden Manipulation anwachsen lässt.

Das Buch übrigens, eine Fussnote, hat seine eigene Geschichte, die ihrerseits vielfältig mit Vergessen zu tun hat: «Die schweizerische Literatur des 18. Jahrhunderts» von J. C. Mörikofer liegt mir vor als «fotomechanischer Neudruck der Originalausgabe 1861 nach dem Exemplar der Universitätsbibliothek Leipzig», für dessen Herausgabe das «Zentralantiquariat der Deutschen Demokratischen Republik» (Leipzig 1977) verantwortlich zeichnet – «Druck: Nationales Druckhaus, VOB National, 1055 Berlin». Eingedruckter «EVP»: 100,- M.

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