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Martin Andreas Walser

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Die Welt am Nagel

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Da hing sie: Meine Welt.

Die Welt von damals.

Schlaff und elend hing sie herunter vom Nagel an der Wand, an den ich sie gehängt hatte. Die Luft war ihr ausgegangen, die Hülle undicht geworden. Ein trauriger, ein elender Anblick.

Der Globus hatte mich seit meiner Jugend begleitet. Ich hatte ihn geschenkt bekommen, als ich acht, vielleicht neun oder zehn Jahre alt gewesen war; so genau vermag ich daran nicht mehr zu erinnern. Ein Globus zum Aufblasen, den man ins Schwimmbad mitnehmen konnte oder mit dem man draussen spielte. Gross und federleicht war er und stets, darauf achtete ich, prall gefüllt mit Luft. Der schönste Moment für mich war stets, mich mit der leeren Plastikhülle vor den Spiegel zu stellen, die kleine Klappe oben beim Nordpol zu öffnen, meinen Mund auf das Röhrchen zu senken, mir beinahe die Lunge aus dem Leib zu pusten und gleichzeitig zuzusehen, wie sich die Welt entfaltete. Die in unterschiedlichen Farben gehaltenen Kontinente wuchsen heran, aus den dazwischen liegenden blauen Flecken entstanden die Ozeane, aus den weisslichen Flecken bildeten sich Nord- und Südpol. Immer grösser und eindrücklicher wurde die Welt, mächtig und mächtiger, bis sie kugelrund war und in leuchtenden, bunten Farben vor mir lag.

Ich hatte stets Sorge zu diesem Plastikglobus getragen. Er war mit mir von Lebensabschnitt zu Lebensabschnitt gereist. An jenem, den ich gerade verliess, hatte ich die alte, abgestandene Luft hinausgedrückt, bis ich die leere Hülle sorgfältig falten und sie für den Umzug in einer jener Kisten oder Schachteln unterbringen konnte, in der sich keine spitzen Gegenstände befanden, die sie hätten verletzen können. An jedem neuen Lebensort blies ich sie wieder auf; ich fand immer einen Platz für die bunte Kugel, die ich noch immer dann und wann bestaunte. Gewiss, es waren inzwischen neue Grenzen gezogen, neue Staaten gebildet, andere in verschiedene kleinere aufgeteilt worden, aber die Kontinente waren immer noch dieselben Kontinente und die Meere noch die gleichen Meere.

Doch nun kam ich dieser Tage an einem Morgen in mein Arbeitszimmer und statt der Kugel lag auf dem Schrank bloss noch eine schlaffe Hülle. Nach all den Jahrzehnten war der Welt die Luft ausgegangen, die Hülle brüchig geworden, bis ihr über Nacht alle Luft entwich.

Ich habe einen Nagel in die Wand geschlagen, sorgfältig ein Stück festen Faden um das nun nutzlose Ventil gewickelt und das bunte Stück Plastik aufgehängt.

Ein Symbol, das ich mir besehe und mich dabei frage, ob es sich noch lohne, diesem traurigen Rest Welt Geschichten erzählen zu wollen.

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