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Martin Andreas Walser

1985: Wie erleichtert wir damals doch waren

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«1984 ist vorbei – und nichts von Orwells Vision ist eingetreten»: So oder ähnlich lauteten 1985 die Schlagzeilen.

Heute scheint dieser Roman von George Orwell, in dem ein totalitärer Überwachungsstaat geschildert wird, ziemlich in Vergessenheit geraten zu sein. Dabei wäre es angesichts der derzeitigen Debatten ganz gut, den 1949 (!) erschienenen Roman erstmals oder erneut zu lesen. Allerdings müsste man sich einer grösseren Anstrengung unterziehen, als sich in diesem oder jenem, was man derzeit als «totalitär» betrachtet, bestätigt zu fühlen oder nur den Widerstand gegen den betreffenden, einzelnen Aspekt zu fordern.

Um zu erkennen, worum es in Orwells Buch insgesamt wirklich geht, braucht man sich vorerst bloss diese Stichworte anzusehen, wie sie für den Inhalt des Romans genannt werden: Kontrolle der Vergangenheit, Krieg ist Frieden, Doppeldenk (Zwiedenken), Hasswoche, Unperson, Neusprech und Gedankenverbrechen.

Was ich immer klarer erkenne und demzufolge immer höher und dankbarer werte, ist der Umstand, dass ich zu einer Zeit die Kantonsschule («Gymnasium») besuchen durfte, in der es Lehrpersonen gab, die neben der reinen Stoffvermittlung Zeit fanden, andere Elemente einer wahren Bildung zu würdigen und zu fördern. Wenn wir also George Orwells «1984» (wie übrigens auch Alexander Sutherland Neills «Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung») im Deutschunterricht (!) lasen, so wurden die Debatte, die Diskussion, das eigene Denken, die eigene Meinungsbildung ebenfalls gefördert, sagen wir: geschult, indem das Resultat der Lektüre nicht nach der «besten Zusammenfassung» bewertet wurde, sondern man über den Inhalt diskutierte.

Sich selber eine Meinung zu bilden, sie zu vertreten, zu verteidigen, andere Argumente aber wenigstens ebenfalls anzuhören, ausgehend von der Quelle und nicht den Urteilen, die bereits gefällt waren oder den Deutungen, die man vorgesetzt bekam: Dies bildete ein wichtiges Element dieses Unterrichts, wie ich ihn mir anhand der vielen, täglich zu lesenden «ich habe irgendwo gelesen», «wenn die das sagen, muss es stimmen», «es gilt als erwiesen…» usw. für derzeitige hitzige Gefechte (vielfach weniger Diskussion, denn eigentliche «Glaubenskriege»), und «heutige Menschen» ebenfalls wünschen würde. Oder befinden wir uns bereits in der Phase, in der uns das differenzierte, das eigene Denken erschwert ist, ohne dass wir es wahrgenommen haben?

Dürfen wir also noch erleichtert sein, dass 1984 vorbeigezogen ist – und damit eine Zukunft der Vergangenheit angehört, die nach dem Zweiten Weltkrieg entworfen wurde?

Das frage ich mich.

Heute wieder mehr denn je.

Und in grosser Sorge.

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