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Martin Andreas Walser

Peter Bichsel: Kindergeschichten – oder: Das Gedächtnis treibt ein seltsames Spiel

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Was diese spezielle Zeit mit mir anstellt (4)

Lieblingsbücher sind ganz spezielle Bücher, nicht zwingend “die wichtigen”, nicht unbedingt jene, die “einen geprägt” haben, Bücher halt, die man noch mehr liebt als die anderen – und mit denen meist eine Geschichte verknüpft ist, eine Erinnerung, die eine bessere Chance hat, wieder wach zu werden in Zeiten wie dieser. Lieblingsbuch 3/10 …

IMG_20200520_183421~2Es gibt Lieblingsbücher, an die erinnert man sich erst wieder, wenn man sie erneut vor sich sieht. Dann aber stellt das Gedächtnis ein Stichwort zur Verfügung noch bevor man das Buch aus dem Regal gezogen hat: «Onkel Jodok» lautete es im vorliegenden Fall.

Das Gedächtnis treibt mitunter ein merkwürdiges Spiel mit den Erinnerungen, lässt sie nach Belieben verschwinden und aus dem scheinbaren Nichts wieder auftauchen, lebendig werden, als wäre gestern gewesen, was lange zurückliegt. Wie lange?, fragt man sich sogleich, kann die Frage nicht beantworten, erinnert sich aber gleichzeitig daran, was den schmalen Band, dann halt einfach «damals», zu einem der Lieblingsbücher werden liess: die skurrilen, konsequent zu Ende gedachten Einfälle, erzählt in nüchterner, unaufgeregter Sprache, einfach herrlich. So erfährt man vom Mann, der zwar wusste, dass die Erde rund ist, es aber glauben wollte und deshalb plante, den Erdball zu umrunden: Er würde es erst glauben können, käme er eines Tages von der anderen Seite zum Ausgangspunkt zurück, man erfährt, dass es Amerika vielleicht gar nicht gibt – oder eben: Was es mit Jodok auf sich hat. Man merkt schon: Diese «Kindergeschichten» sind nicht nur Geschichten für Kinder – oder dann: auch für grosse Kinder wie mich. Das Wiederlesen nach so vielen Jahren hat ebenso viel Spass gemacht wie bei der ersten Begegnung.

Stichwort Begegnung: Bevor ich das Buch wieder zurück ins Regal stellte, löste ich die erste Seite aus dem Schutzumschlag, unter der ich sie offenbar fixiert hatte.

Und entdeckte das Autogramm des Autors.

Da war sie wieder, die Erinnerungslücke: Ganz hinten im Buch steht zwar ein Datum, mit Bleistift notiert (15. 12. 70) und der Preis (Fr. 9.40), aber wann und unter welchen Umständen ich zum Autogramm kam: Weg. Einfach weg.

Ja, das Gedächtnis treibt manchmal ein seltsames Spiel mit den Erinnerungen.

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