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Martin Andreas Walser

Plinio Martini: Fest in Rima – oder: Von den Heimaten

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Was diese spezielle Zeit mit mir anstellt (8)

Lieblingsbücher sind ganz spezielle Bücher, nicht zwingend “die wichtigen”, nicht unbedingt jene, die “einen geprägt” haben, Bücher halt, die man noch mehr liebt als die anderen – und mit denen meist eine Geschichte verknüpft ist, eine Erinnerung, die eine bessere Chance hat, wieder wach zu werden in Zeiten wie dieser. Lieblingsbuch 7/10 …

IMG_20200524_122511~2Schon der Plural im Titel mag manchen als Provokation erscheinen: Heimat gibt es nur in der Einzahl, sagen sie, du kannst nur eine Heimat haben. Punkt.

Doch was ist sie, diese eine, diese einzig wahre Heimat? Der Geburtsort? Zu ihm hatte und habe ich keine andere Beziehung, ausser dass ich dort zur Welt kam (und viel, viel später, jahrelang dort arbeitete – am Morgen kam, am Abend wegfuhr). Ist Heimat dort, wo man die längste Zeit lebte und lebt? «Du wirst diesen Ort nie als Heimat bezeichnen können», sagte mir mal jemand, nachdem ich schon an die dreissig Jahre hier wohnte, und hielt eine sehr einfache Begründung bereit: «Weil du nicht unseren Dialekt sprichst.» Was mich sehr schmerzte, weil ich mich mit dieser Person sehr gut verstand und ihr Anliegen, den Dialekt und die Geschichte der Dörfer zu bewahren und zugänglich zu machen, so kraftvoll unterstützte, wie es mir möglich war.

Es schmerzte wohl besonders, weil ich glaubte und selbst erlebt zu haben glaube, dass diese Annäherung an den Heimatbegriff eine zutreffende ist: «Heimat ist, wo das Herz zu Hause ist.» Und dass mein Herz sich hier wohl fühlte und fühlt – daran bestand für mich nie der geringste Zweifel.

Wobei sich indessen die Anschlussfrage stellt, ob das Herz nur an einem Ort oder an mehreren zu Hause sein kann.

Ja, kann ich aus eigenem Erfahren und Erleben sagen – womit ich bei den Heimaten angelangt wäre.

Damit meine ich nicht Orte, in denen man auf Ferien- oder anderen Reisen einst einige Tage oder eventuell Wochen verbracht und festgestellt hat, dass man «hier leben könnte», sondern in meinem Fall jene wenigen Orte, in die ich einst gekommen bin und sogleich, in den ersten Minuten und Stunden das Gefühl hatte, ich sei nicht in die Ferne gereist, sondern «nach Hause gekommen».

Vier sind es geworden über die Jahrzehnte, meine Heimatstadt aus der Jugendzeit und meine Heimat hier, wo ich mittlerweile bald fünfzig Jahre wohne und lebe, nicht eingerechnet. Ich bin hingekommen und hatte das Gefühl, der Ort habe mich gewählt und nicht ich ihn. Das Herz fühlte und fühlt sich wohl – dort wie hier.

Heimat hat mir stets abgefordert, mich mit deren Geschichte, der Kultur, den Menschen, den Eigenheiten, den Sorgen und Nöten zu befassen. Dies bedeutete zum Beispiel, als mich dieses Haus im Maggia-Tal zu seinem neuen Bewohner gewählt hat, mich dem Tal und dem Tessin hinzuwenden.

Auf dieser Annäherung bin ich unter anderem auf den Lyriker, Romancier und Erzähler Plinio Martini (1923 bis 1979) aus Cavergno im Maggia-Tal gestossen. Neben seinen Romanen hat mich «Fest in Rima» besonders in seinen Bann gezogen, das Buch, das den Untertitel «Geschichten und Geschichtliches aus den Tessiner Tälern» trägt.

Es ist nicht immer einfach, ein «grosses Herz» zu haben, das sich an verschiedenen Orten wohl fühlt. Weil es blutet, wenn es den Menschen in den Heimaten schlecht geht, und es blutet stärker, wenn man, wie nun in diesem ersten Halbjahr 2020, nicht bei ihnen sein, nicht zu ihnen reisen kann. Und weil es schwer zu erklären ist – zumal man leicht in Verdacht gerät, das Herz sitze nicht am «richtigen Fleck».

Was, ich kann da nur für mich sprechen, keineswegs zutrifft (solange man den “richtigen” nicht mit dem “rechten” Fleck verwechselt).

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