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Martin Andreas Walser

Linda Melvern: The End of the Street – oder: Von gestürzten Monumenten

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Was diese spezielle Zeit mit mir anstellt (10)

Lieblingsbücher sind ganz spezielle Bücher, nicht zwingend “die wichtigen”, nicht unbedingt jene, die “einen geprägt” haben, Bücher halt, die man noch mehr liebt als die anderen – und mit denen meist eine Geschichte verknüpft ist, eine Erinnerung, die eine bessere Chance hat, wieder wach zu werden in Zeiten wie dieser. Lieblingsbuch 9/10 …

IMG_20200526_093530~2Früher existierten Monumente, von denen man nie geträumt hätte, sie könnten einst fallen. Eines davon war die Londoner Fleet Street, jene Strasse, in der seit dem 16. Jahrhundert des Druckgewerbe, seit 1702, als hier die erste englische Tageszeitung erschien, das Zeitungsgewerbe zu Hause war. Im zwanzigsten Jahrhundert wurde hier rund um die Uhr gedruckt – die «Times», «Daily Telegraph» und «Daily Express», «The Sun» und andere waren hier zu Hause. Bei meinen frühen Aufenthalten in London erhielt man innerhalb eines gar nicht so langen Rundgangs mitunter denselben Zeitungstitel mit unterschiedlichen, bereits wieder aktualisierten Frontseiten.

Doch in nur rund zwölf Monaten ging 1985/86 die «Fleet Street» unter – «The End of the Street» war gekommen.

Ich habe damals das gleichnamige Buch der englischen Journalistin Linda Melvern, die unter anderem für die «Sunday Times» gearbeitet hatte, gelesen wie einen Krimi. Nach dem Studium des Buchtes blieb ich in der Beurteilung der Vorgänge ziemlich unentschieden zurück: Sollte man Rupert Murdoch verteufeln, der der englische Medienwelt, wie man sie kannte, mit dem Auszug von der Fleet Street nach Wapping in Ost-London quasi den Todesstoss zugefügt hatte, oder war der Bruch mit den starren, festgefahrenen Strukturen mit ihren übermächtigen Gewerkschaften und die Hinwendung zu modernen Produktionsmethoden die einzige Hoffnung, der gedruckten Presse längerfristig das Überleben sichern zu können?

Es war die Zeit, als auch hierzulande die traditionelle Herstellung der Zeitungen zu wanken begann und Computersysteme in den Zeitungshäusern einzuziehen begannen. Bedeutete dies einen neuen Anfang oder wurde das Ende eingeläutet?

Wie auch immer: Wer heute die Medien beurteilen will – als «Lügenpresse», Journalisten, wie es der amtierende Präsident der USA tut, als «Feinde des Volkes», oder vielleicht doch noch als Informationsquelle, als Quelle aber auch, um eigene Standpunkte an den Meinungen anderer zu messen –, der sollte auch die Geschichte und damit die Entwicklung bis zum heutigen Zustand in Betracht ziehen. Mit einem unverstellten Seitenblick auf das eigene Medienverhalten.

Linda Melvern schilderte den Kampf in «The End oft he Street» sehr differenziert und beleuchtet diesen Bruch mit allen Traditionen detailliert und kenntnisreich – ein Werk, das alles enthielt, was das wahre Leben bereithält und trotzdem ein wahrer Teil der englischen und der Mediengeschichte schlechthin ist: Drama, Tragödie, Verschwörung und Farce.

Anders, als ich bislang annahm, habe ich «The End oft the Street» nicht in meinem geliebten London (zum aufgedruckten Preis von 9.95 englischen Pfund), sondern am 27. Februar 1987 zum Brutto-Preis von Fr. 30.60 in Kreuzlingen erworben – in der Buchhandlung, die zum Zeitungshaus gehörte, für das ich damals als Journalist arbeitete. Auf dem Kassenzettel, als Buchzeichen zwischen den Seiten nun wiederentdeckt, ist deshalb ein Mitarbeiterrabatt von 20 Prozent ausgewiesen. Über diese Zeit berichten zu wollen, wäre allerdings mindestens eine Geschichte für sich …

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