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Martin Andreas Walser

18. Mai 2020
von Martin Andreas Walser
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Oscar Peer: Eva und Anton – oder: Die Aufnahmeprüfung

Was diese spezielle Zeit mit mir anstellt! (2)

Lieblingsbücher sind ganz spezielle Bücher, nicht zwingend “die wichtigen”, nicht unbedingt jene, die “einen geprägt” haben, Bücher halt, die man noch mehr liebt als die anderen – und mit denen meist eine Geschichte verknüpft ist, eine Erinnerung, die eine bessere Chance hat, wieder wach zu werden in Zeiten wie dieser. Weil man die Musse hat, in den eigenen Bücherregalen auf Entdeckungsreisen zu gehen, die über das blosse Wiedersehen mit diesen speziellen Büchern hinausgeht:

OSCAR PEER: EVA UND ANTON

IMG_20200518_090147~2Das Gebäude war alt, langgezogen, abweisend, monumental und schien mir eher ein Gefängnis- oder Verwaltungsgebäude zu sein als eine «höhere Schule». Meine Nervosität stieg, ich wusste nicht, was mich erwartete und fühlte mich unwohl in diesem hohen, langen Flur der Kantonsschule «Im Lee» in Winterthur, wo man mich warten hiess, bis man mich rufen würde. Anders als in den anderen Abteilungen war die mündliche Aufnahmeprüfung hier ungeachtet der Vornoten obligatorisch; ich erinnere mich nur an jene im Fach Deutsch.

Endlich wurde ich gerufen. Das leere Schulzimmer, das ich betrat, erschien mir düster, der Lehrer, der mich gleich prüfen würde, gestreng, ernst, unzugänglich, mürrisch; der einzige Lichtblick war der Experte, der hinten im Zimmer sass: er unterrichtete in der Parallelklasse an der Sekundarschule, war mir somit bekannt.

Und da stellte der gestrenge Herr Kantonsschullehrer auch schon die erste Frage. Ich verstand sie in meiner Aufregung und weil sie mir bis heute als etwas genuschelt in Erinnerung ist, nicht vollständig. Sie lautete ungefähr so: «Verwandt mit – nuschelnuschel – Walser?»

Ich konnte wohl kaum zugeben, die Frage nicht verstanden zu haben, die allererste zudem! Doch es sprach aus mir heraus, bevor ich mir eine Antwort zurechtlegen konnte: «Mit Martin Walser nicht – mit Robert schon.» Was wiederum den vor mir Stehenden kurz aus dem Konzept brachte: Er konsultierte sein Blatt, auf dem der Name des Prüflings stand: Martin Walser. Dann lächelte er kaum wahrnehmbar, und hob, während er vor mir auf und ab ging, zu einem Loblied auf Robert Walser an. Ich glaube, ich habe lediglich zwei Fragen beantworten müssen: «Hast du etwas von ihm gelesen?» und «Hat es dir gefallen?» Fünfzehn oder zwanzig Minuten später stand ich wieder im Flur, noch verwirrter als zuvor: Wie sollte ich eine Prüfung bestanden haben, bei der gar nichts geprüft wurde?

Der Experte erschien kurz, beruhigte mich: «Kein Grund zur Besorgnis.» Und verschwand wieder.

Ich hatte bestanden.

Dass Oscar Peer auch schriftstellerisch tätig war, wusste man natürlich an der Schule, die er bald darauf verliess, gelesen hatte ich nie etwas von ihm, bis ich Jahrzehnte später in einer Buchhandlung auf eine Neuauflage in deutscher und rätoromanischer Sprache von «Eva und Anton/Eva ed il sonch Antoni» stiess. Ein wundervolles Buch, das ich bereits mehrere Male gelesen habe und nun wieder zur Hand nehme.

18. Mai 2020
von Martin Andreas Walser
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Haben die Menschen das Leben verdient?

Was diese spezielle Zeit mit mir anstellt (1)

Was dieseIMG_20200517_083329~2 spezielle Zeit doch mit mir anstellt! Nicht, dass mich dies – länger – ängstigen würde, ich staune mittlerweile eher und, inmitten dieser Verbissenheit, dieses immer derberen Kampfes um die Richtigkeit des eigenen, des einzig wahren Standpunkts, dieser Schlacht, bei der man sich Zahlen entgegenschleudert und womit man aufeinander eindrischt, die eigene Interpretation stets parat, der unbändige Wille, sie bis zum endgültigen Sieg durchzusetzen, und daneben manche Lächerlichkeit des Alltags, die für oder wider den angeblichen Beweis von Verlust von Freiheit und Demokratie ins Feld geführt wird: Kriegsrhetorik allerorten – und schon der Triumph mitten unter uns, absehbar, durchsichtig, aber gefeiert, als habe man gesiegt: «Wir haben es schon immer gewusst», zum Beispiel, dass alles nicht so schlimm herauskäme, wie die verhasste Politik dies dargestellt habe, ergo alles falsch gewesen sei, was dieselbe verordnet und befohlen habe, ohne dass man einen einzigen Gedanken daran verschwendet, wie sich alles entwickelt haben könnte, wäre nichts von alledem, was nun im Rückblick als «übertrieben» gegeisselt wird, je ergriffen, angeordnet, geboten und verboten worden, inmitten all dessen also wage ich zu bekennen, dass ich manches von dem zu geniessen begonnen habe, was ich mit mir anstelle in einer Zeit, in der sich vordergründig die Möglichkeiten verringert haben.

Weil sich gleichzeitig der Raum für die eigene Entfaltung vergrössert hat.

Nicht, dass ich mich als so unwichtig betrachte, dass ich gleich meine Memoiren schreiben wollte, oder als so wichtig, dass ich sie schreiben müsste, mitnichten!, aber ich habe mich in gewisser Weise wiederentdeckt, habe nachgedacht über Vergangenes, das Fundament dessen, der ich heute bin, ohne mir dies bewusst zu sein all die Zeit, in der – auch – ich durch das Leben hetzte: Ruhe und Besinnung sind eingekehrt, Verschüttetes erlebe ich plötzlich freigelegt, kleine Freuden wiederbelebt, scheinbar elefantös grosse Probleme haben sich zu den mausekleinen zurückgebildet, die sie im Kontext eines ganzen, gelebten Lebens und einer Welt letztlich sind, die in verschiedenster Hinsicht aus den Fugen geraten ist.

Eigentlich könnte manches so bleiben, wie es notgedrungen geworden ist, wäre mein Wunsch und die gewonnene Erkenntnis – und, um gleich diesen Einwand zu entkräften: nicht verordnet, sondern aus eigener Einsicht. Doch ich glaube beobachtet zu haben, dass dies nicht geschieht, man sich wieder alle Freiheiten von zuvor herausnehmen und dann nach dem Staat schreien wird, der dies und jenes halt regeln, verordnen, verbieten müsse, damit sich etwas ändere, um, sobald «er», dieses scheinbar abstrakte Gebilde, das wir doch eigentlich alle zusammen sind, dies tut, nach Freiheit zu schreien und uns dagegen zu verwahren, dass man sie beschneide. Somit: Wenn man nicht aus all den weit schlimmeren und grausameren Fehlern und Verbrechen der Vergangenheit gelernt hat, wie sollte man es diesmal schaffen?

Der portugiesische Literatur-Nobelpreisträger José Saramago, der in «Kain» den Brudermörder zu den unterschiedlichsten Schauplätzen der biblischen Geschichte schickt, lässt die Engel, die von Kain, bei Noah angelangt und damit vor der Sintflut, gefragt werden, ob sie glaubten, dass nach dem Auslöschen dieser Menschheit die darauf folgende nicht auf dieselben Fehler, dieselben Versuchungen, dieselben Irrwege und Verbrechen verfallen werde, unter anderem antworten: «…offen gesagt glauben wir nicht, wie der zweite Versuch zufriedenstellend ausgehen soll, wenn der erste zu diesem Trauerspiel geführt hat, das sich unserem Auge bietet, kurzum, nach unserer aufrichtigen Meinung als Engel und in Anbetracht der vorhandenen Beweise haben die Menschen das Leben nicht verdient.»

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16. Mai 2020
von Martin Andreas Walser
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140 Meter Strasse – wie viel da geschehen könnte …

Während sich “alle Menschen” den wirklich grossen Fragen annehmen, mit denen wir uns konfrontiert sehen, beschäftigt mich bald Tag und Nacht ein winzig kleines Stück Strasse, etwa fünfzig Meter lang, habe ich geschätzt, musste auf einhundert verlängern, weil die fünfzig Meter nicht ausgereicht hätten, die Geschichte zu erzählen, und habe schliesslich nachgemessen: Es sind in Wirklichkeit beruhigende 140 Meter… Was da alles geschehen kann oder könnte! Die gesamte Welt liesse sich aus den Angeln heben! Doch meine Absicht ist viel bescheidener …

17. April 2020
von Martin Andreas Walser
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1985: Wie erleichtert wir damals doch waren

«1984 ist vorbei – und nichts von Orwells Vision ist eingetreten»: So oder ähnlich lauteten 1985 die Schlagzeilen.

Heute scheint dieser Roman von George Orwell, in dem ein totalitärer Überwachungsstaat geschildert wird, ziemlich in Vergessenheit geraten zu sein. Dabei wäre es angesichts der derzeitigen Debatten ganz gut, den 1949 (!) erschienenen Roman erstmals oder erneut zu lesen. Allerdings müsste man sich einer grösseren Anstrengung unterziehen, als sich in diesem oder jenem, was man derzeit als «totalitär» betrachtet, bestätigt zu fühlen oder nur den Widerstand gegen den betreffenden, einzelnen Aspekt zu fordern.

Um zu erkennen, worum es in Orwells Buch insgesamt wirklich geht, braucht man sich vorerst bloss diese Stichworte anzusehen, wie sie für den Inhalt des Romans genannt werden: Kontrolle der Vergangenheit, Krieg ist Frieden, Doppeldenk (Zwiedenken), Hasswoche, Unperson, Neusprech und Gedankenverbrechen.

Was ich immer klarer erkenne und demzufolge immer höher und dankbarer werte, ist der Umstand, dass ich zu einer Zeit die Kantonsschule («Gymnasium») besuchen durfte, in der es Lehrpersonen gab, die neben der reinen Stoffvermittlung Zeit fanden, andere Elemente einer wahren Bildung zu würdigen und zu fördern. Wenn wir also George Orwells «1984» (wie übrigens auch Alexander Sutherland Neills «Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung») im Deutschunterricht (!) lasen, so wurden die Debatte, die Diskussion, das eigene Denken, die eigene Meinungsbildung ebenfalls gefördert, sagen wir: geschult, indem das Resultat der Lektüre nicht nach der «besten Zusammenfassung» bewertet wurde, sondern man über den Inhalt diskutierte.

Sich selber eine Meinung zu bilden, sie zu vertreten, zu verteidigen, andere Argumente aber wenigstens ebenfalls anzuhören, ausgehend von der Quelle und nicht den Urteilen, die bereits gefällt waren oder den Deutungen, die man vorgesetzt bekam: Dies bildete ein wichtiges Element dieses Unterrichts, wie ich ihn mir anhand der vielen, täglich zu lesenden «ich habe irgendwo gelesen», «wenn die das sagen, muss es stimmen», «es gilt als erwiesen…» usw. für derzeitige hitzige Gefechte (vielfach weniger Diskussion, denn eigentliche «Glaubenskriege»), und «heutige Menschen» ebenfalls wünschen würde. Oder befinden wir uns bereits in der Phase, in der uns das differenzierte, das eigene Denken erschwert ist, ohne dass wir es wahrgenommen haben?

Dürfen wir also noch erleichtert sein, dass 1984 vorbeigezogen ist – und damit eine Zukunft der Vergangenheit angehört, die nach dem Zweiten Weltkrieg entworfen wurde?

Das frage ich mich.

Heute wieder mehr denn je.

Und in grosser Sorge.

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12. April 2020
von Martin Andreas Walser
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Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit

Weshalb noch reisen, weshalb die Wohnung, das Haus verlassen? Wenn alles vorüber ist, sollen neue Regeln gelten! Du hast doch alles. Dank Google, Youtube, Fernsehen und so weiter kannst du dir die ganze Welt ins eigene Wohnzimmer holen. Wann immer du willst! Du kannst lesen, sehen und somit erleben, wie die Welt da draussen ist. Ungeschminkt. Die Wahrheit erfahren! Und zudem verrät dir Wikipedia zu praktisch jedem Stichwort die Wahrheit. Nichts als die Wahrheit.

Ich bin von dieser Wahrheit betroffen. Ein kleiner Satz nur im Zusammenhang mit einem Ereignis, das lange zurückliegt. In diesem kleinen Satz in Wikipedia wird erklärt, wer ich damals war. Ich bin per Zufall auf diesen Eintrag gestossen. Ich habe mir nichts weiter dabei gedacht: Lange her, was soll’s…

Eines Tages berichtete eine «grosse Zeitung», einige der wenigen, die noch als seriös gelten, von jenem Ereignis – und zitierte unter anderem den Satz, der über mich in Wikipedia steht. Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit.

Bloss: Der Satz ist nicht wahr!

Nicht subjektiv empfunden. Objektiv, weil ich selbst wohl besser weiss, wer ich damals war.

Ich habe die Zeitung darauf hingewiesen.

Keine Reaktion.

Ich habe dies dem Urheber dieser «Wahrheit» mitgeteilt, die er auch in seinen Büchern, in seinen Interviews, mittlerweile sogar in einem Film über mich verbreitet.

Er gab mir diese interessante Antwort: Sein damaliger Gewährsmann habe ihm dies so berichtet – und der sei der Wahrheit und nichts als der Wahrheit verpflichtet gewesen. Folglich sei wahr, was er über mich wisse und verbreite: Ich sei tatsächlich der gewesen damals, der ich aufgrund des Berichts seines Gewährsmannes war.

Man nehme mir nicht übel, dass ich den Menschen nicht empfehlen will, die «Wahrheit» lediglich aus Medien welcher Art auch immer zu beziehen.

(Und ein PS, das mich tröstet: Da gab es eine Journalistin, die rief mich an, um meine Sicht der Dinge zu erfahren, da ich doch beteiligt, betroffen, mittendrin dabei gewesen war. Ihr werde ich für immer dankbar sein, denn ihr ging es um die Wahrheit, um nichts als die Wahrheit.)

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12. April 2020
von Martin Andreas Walser
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Da stehst du: in den neuen Tag geworfen

Da stehst du: in den neuen Tag geworfen. Der heutige wird sein wie der gestrige war, wird sein wie der morgige Tag und der Tag danach und der Tag nach jenem danach sein wird. Und du befürchtest: das könnte kein guter Tag werden.

Und du weisst: das sollst du nicht laut sagen.

Weil da gleich jemand ist, der dir sagt: Hör bloss auf zu jammern.

Weil da gleich jemand ist, der dir sagt: anderen Menschen geht es viel schlechter als dir.

Weil da gleich jemand ist, der dir sagt: alles wird gut, Geduld, Geduld.

Weil da gleich jemand ist, der dir sagt: wir helfen dir, was sollen wir einkaufen für dich.

Weil da gleich jemand ist, der dir sagt …

Doch du stehst da, du, der du immer das Loblied auf das Alleinsein gesungen hast, denn du weisst aus Erfahrung, wie wohltuend und besonders wertvoll solche Stunden, solche Tage sind, du, ausgerechnet du spürst nun, wie die Einsamkeit nach dir greift.

Aber du wirst nichts sagen.

Denn da ist gleich jemand, der dir sagt: hör auf zu jammern, anderen Menschen geht es viel schlechter als dir, alles wird gut, wir helfen dir, wir beschützen dich, wir sorgen für dich.

Und du hörst nur: Sei dankbar, sei endlich dankbar.

Das bist du.

Und trotzdem stehst du einfach nur da.

Und schweigst.

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11. April 2020
von Martin Andreas Walser
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Von der Relativität der Zahlen

Den blindlings Statistikgläubigen gewidmet

Es trug sich zu an der Endstation der Buslinie. Ich war bereits ausgestiegen. Im Vorbeigehen wünschte ich dem Busfahrer einen schönen Tag und stockte, als ich sah, wie er verwirrt auf ein Blatt Papier starrte.

«Was ist los?» fragte ich.

«Uns wurde aufgetragen», erklärte er, «heute während des ganzen Tages an jeder Haltestelle die Zahl der Ein- und der Aussteigenden in eine Tabelle einzutragen.»

«Und», gab ich zurück, «das ist doch ziemlich einfach. Wo liegt das Problem?»

«Sagen wir es so», erhielt ich zur Antwort, «gemäss meiner Statistik müssten noch drei Personen einsteigen, damit der Bus leer ist.»

Es haben an diesem Tag alle Fahrer in der Region diese Zahlen erhoben.

Und an weiteren Tagen ebenso, um die geforderte Aussagekraft zu erzielen.

Man hat die Zahlen übertragen in eine Tabelle.

Man hat aus der Tabelle eine Statistik erstellt.

Man hat daraus Schlüsse über die Benutzung der Buslinien in der Region gezogen.

Und man sass zusammen, um anhand dieser Zahlen eine Strategie für die Zukunft zu entwickeln.

Denn, das weiss jedes Kind: Zahlen lügen nicht.

Eine wahre Geschichte.

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3. Februar 2020
von Martin Andreas Walser
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Die Welt am Nagel

Da hing sie: Meine Welt.

Die Welt von damals.

Schlaff und elend hing sie herunter vom Nagel an der Wand, an den ich sie gehängt hatte. Die Luft war ihr ausgegangen, die Hülle undicht geworden. Ein trauriger, ein elender Anblick.

Der Globus hatte mich seit meiner Jugend begleitet. Ich hatte ihn geschenkt bekommen, als ich acht, vielleicht neun oder zehn Jahre alt gewesen war; so genau vermag ich daran nicht mehr zu erinnern. Ein Globus zum Aufblasen, den man ins Schwimmbad mitnehmen konnte oder mit dem man draussen spielte. Gross und federleicht war er und stets, darauf achtete ich, prall gefüllt mit Luft. Der schönste Moment für mich war stets, mich mit der leeren Plastikhülle vor den Spiegel zu stellen, die kleine Klappe oben beim Nordpol zu öffnen, meinen Mund auf das Röhrchen zu senken, mir beinahe die Lunge aus dem Leib zu pusten und gleichzeitig zuzusehen, wie sich die Welt entfaltete. Die in unterschiedlichen Farben gehaltenen Kontinente wuchsen heran, aus den dazwischen liegenden blauen Flecken entstanden die Ozeane, aus den weisslichen Flecken bildeten sich Nord- und Südpol. Immer grösser und eindrücklicher wurde die Welt, mächtig und mächtiger, bis sie kugelrund war und in leuchtenden, bunten Farben vor mir lag.

Ich hatte stets Sorge zu diesem Plastikglobus getragen. Er war mit mir von Lebensabschnitt zu Lebensabschnitt gereist. An jenem, den ich gerade verliess, hatte ich die alte, abgestandene Luft hinausgedrückt, bis ich die leere Hülle sorgfältig falten und sie für den Umzug in einer jener Kisten oder Schachteln unterbringen konnte, in der sich keine spitzen Gegenstände befanden, die sie hätten verletzen können. An jedem neuen Lebensort blies ich sie wieder auf; ich fand immer einen Platz für die bunte Kugel, die ich noch immer dann und wann bestaunte. Gewiss, es waren inzwischen neue Grenzen gezogen, neue Staaten gebildet, andere in verschiedene kleinere aufgeteilt worden, aber die Kontinente waren immer noch dieselben Kontinente und die Meere noch die gleichen Meere.

Doch nun kam ich dieser Tage an einem Morgen in mein Arbeitszimmer und statt der Kugel lag auf dem Schrank bloss noch eine schlaffe Hülle. Nach all den Jahrzehnten war der Welt die Luft ausgegangen, die Hülle brüchig geworden, bis ihr über Nacht alle Luft entwich.

Ich habe einen Nagel in die Wand geschlagen, sorgfältig ein Stück festen Faden um das nun nutzlose Ventil gewickelt und das bunte Stück Plastik aufgehängt.

Ein Symbol, das ich mir besehe und mich dabei frage, ob es sich noch lohne, diesem traurigen Rest Welt Geschichten erzählen zu wollen.

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10. Dezember 2019
von Martin Andreas Walser
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Vielleicht…

Vielleicht hätte ich ein buntes und nicht das dunkelblaue Hemd anziehen sollen.

Eine spektakulär gemusterte statt der schwarzen Hose.

Gelbe Schuhe.

Oder ich hätte wenigstens das Halstuch nicht ablegen sollen in der Garderobe.

Oder eine farblich mein übliches, halt stets etwas langweiliges optisches Erscheinungsbild aufwertende Umhängetasche mittragen müssen, deren sattes Gelb, kräftiges Rot oder giftiges Grün die Blicke und somit die Gedanken und damit die innere Überzeugung des übrigen Publikums sogleich in die richtige, nämlich in die von mir beabsichtigte Richtung gelenkt hätte: Da ist einer nicht bloss des Vergnügens und des Interesses wegen anwesend.

Und ich hätte die noch etwas Unsicheren in ihren Schlüssen, die sie unweigerlich aus der Beobachtung gezogen hätten, wohl vollends in ihrer Ahnung, ihrer Vermutung bestärken können, hätte ich der Tasche zu einem bestimmten Zeitpunkt, natürlich in einer der vorderen, nicht in der hintersten Reihe sitzend, mit einer etwas raschelnden Bewegung, selbstredend verbunden mit einem Blick des vermeintlichen Erschreckens ob des Geräuschs, das ich ungewollt dabei erzeugte, völlig ungewollt, so hätte ich es mein Gesicht darstellen lassen, mein Moleskine entnommen, nach dem Schreibgerät gekramt, es gesucht in meiner Jacke, derart betont verstohlen und leise, dass dies mit Sicherheit aufgefallen wäre, um dann endlich das Notizbuch zu öffnen und etwas hinzukritzeln: So bedeutsam der Moment, dass ich ihn festhalten muss – und dazu ein wissender, der Blick eines Menschen, der längst begriffen hat, worüber all die anderen Menschen rundherum noch immer nachdachten.

Und in die anschliessende Diskussion hätte ich mich schliesslich eingebracht mit dem einleitenden Satz: «Ich bewundere Sie.» Um locker fortzufahren: «Gerade, weil ich so anders bin. Ich würde diese Stimmung auf meine Weise zu erzeugen versuchen müssen, aber eben ganz anders, mir fehlen, für einmal und völlig ungewohnt, vor Ergriffenheit und Bewunderung die Worte.»

Ich hätte mich sodann über den Anlass natürlich sogleich in den Netzen ausgelassen, ausschliesslich lobend, das versteht sich, meine persönliche Anwesenheit nur am Rande, aber unüberlesbar vermerkend, wie ich über alles berichten würde, was mich Tag und Nacht umtreibt, ich, der Getriebene, der von der Muse Geküsste, der immerfort Reflektierende und jede gedankliche Regung beinahe im selben Moment wieder Ausscheidende und über die Menschheit Ergiessende, der unablässig Arbeitende.

Stattdessen sitze ich hier, hadere keineswegs mit dem Schicksal, bereue nichts und ärgere mich weder über mich selbst noch über jene, die es anders angehen, und erschaffe mir ganz still und leise eine neue, nachdem die alte Welt leergedacht ist.

Kein «Vielleicht» kann mich daran hindern, genau so zu bleiben, wie ich bin.

10. Juni 2019
von Martin Andreas Walser
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Zweimal New York – zwei Bücher, zwei ganz unterschiedliche Geschichten

Zwei Geschichten, zweimal New York, einmal als Ausgangs- und Endpunkt einer Reise zur angeblich grossen Liebe aus der Studentenzeit, einmal als Ziel einer Lesereise und Handlungsort einer Liebe, die Schmerz bereitet und unerfüllt bleibt. Doch während Barry Cohen in Gary Shteyngarts «Willkommen in Lake Success» sich seiner Liebe erinnert, weil er befürchten muss, aufgrund seiner Finanzmanipulationen verhaftet und verurteilt zu werden, kommt der polnische Dichter in Tadeusz Dabrowskis «Eine Liebe in New York» wegen einer Lesung in die Stadt und lernt hier die Liebe und den Schmerz kennen. Zwei Bücher, die nichts miteinander zu tun haben, sieht man von der geografischen Zuordnung ab, und doch beide, wenn auch aus ganz unterschiedlicher Perspektive, manches über die Stadt, die Menschen, das Leben verraten.

Mit dem Greyhound durch das Land

«Willkommen in Lake Success» beginnt fulminant und liest sich vorerst mit grossem Genuss; die Geschichte ist witzig bis aberwitzig, bissig, rechnet ab mit den Auswüchsen der Hochfinanz und insbesondere deren Managern und bietet Einblicke in die “reale Welt” vieler Amerikaner auf dem Hintergrund des (Vor)wahlkampfs des derzeitigen Präsidenten.

Doch irgendwann erschöpft sich die Geschichte dieses sich im freien Fall befindenden Barry Cohen, der mit dem Greyhound durch das Land reist, um zu seiner Liebe aus Studentenzeiten zurückzukehren. Man hat begriffen, dass aus dieser «Läuterung» wohl nichts wird.

Er findet seine frühere Freundin tatsächlich (was ein wenig überrascht). Sie geht erneut eine Beziehung mit ihm ein (was ziemlich verblüfft). Und sie schickt ihn schliesslich weg (was überhaupt nicht überrascht).

Spätestens da verflacht die Geschichte. Zur Wahl des «falschen» Kandidaten bleibt später lediglich die Bemerkung, dass er für Barry Cohens Kreise offenbar trotzdem der «richtige» war. Bis es so weit ist und insbesondere danach verlieren die Bilder zunehmend an Schärfe und nehmen die Klischees in bemerkenswertem Tempo zu. Das Finale sodann ist derart kitschig, wie man es aus den «guten, alten Hollywood-Filmen»  kennt: Der bis dahin in letzter Konsequenz unbelehrbar nur auf das Geld und seinen eigenen Profit bedachte Barry Cohen wird endlich «ein guter Mensch» und repariert erfolgreich die seinem autistischen Sohn zugedachte Uhr – ein moraltriefender Abschluss eines in verschiedenster Hinsicht «unmoralischen» bisherigen Lebens.

Die Möglichkeit zu lieben und geliebt zu werden, hat er wegen seiner Liebe zum Geld und zu seinen Uhren verloren – die ihm verbleibenden Millionen werden ihn, ist anzunehmen, trotz des kitschigen Schlusses darüber hinwegtrösten.

Mit der U-Bahn durch New York

Ganz anders «Eine Liebe in New York», in der ein polnischer Schriftsteller auf Lesereise in der U-Bahn die Architektin Megan kennenlernt. Es entwickelt sich eine Geschichte «nach meinem Geschmack»: Die Geschichte einer Liebe, eine Geschichte über die Liebe, eine Geschichte über das Rätsel der Liebe. Und schliesslich eine Geschichte, in der trotz oder gerade wegen allem, was sich scheinbar ereignet, die Frage letztlich offen bleibt, ob nicht alles ganz anders gewesen sein könnte.

Für einmal unterschreibe ich einen Satz des Klappentextes aus Überzeugung: «Eine Liebe in New York erzählt poetisch und intensiv vom Schmerz einer sich verflüchtigenden Wirklichkeit.»

Zwei Bücher «zu» New York, die ich eher zufällig unmittelbar hintereinander gelesen habe. An einem dritten – Lisa Hallidays «Asymmetrie» – bin ich noch dran; es zeigt wiederum ganz andere Facetten der Stadt und ihrer Menschen – und der Liebe.