schrei-b-log

Martin Andreas Walser

»Wiederkehr« ist da – Gedanken zu meiner neuen Erzählung

| Keine Kommentare

Buch-Cover »Wiederkehr«Das Gefühl ist ähnlich jenem, wenn ein Kind das Elternhaus verlässt: In die Freude darüber, dass es erwachsen und selbstständig geworden ist, mischt sich Traurigkeit, weil man sich nicht mehr täglich sehen, sich nicht mehr täglich aneinander reiben, miteinander diskutieren, essen, trinken, fernsehen wird, und nicht länger verfolgen kann, wie es sich weiter entwickelt.

Traurigkeit, welcher Art auch immer, habe ich stets damit »bekämpft«, dass ich mich in die Arbeit stürzte, was heisst: kaum nähert sich eine Geschichte der Vollendung, taucht in mir bereits eine neue auf, die von sich behauptet, unbedingt erzählt werden zu müssen. Ich muss jeweils höllisch aufpassen, dass ich mich weiterhin voll auf das konzentriere, was abgeschlossen sein will, statt mich unmittelbar diesem verlockend Neuen zuzuwenden.

Bei »Wiederkehr« war dies nicht anders, doch habe ich mittlerweile gelernt, meine Begeisterung zu beherrschen, also mich nicht in Euphorie hineinzusteigern. Mehr als einmal musste ich nämlich erleben, dass Texte, die ich in solchen Momenten in Angriff nahm, sich nicht zu etwas Gültigem entwickelten: Es dauert bei mir vielfach Jahre, bis eine Idee oder ein Entwurf sich zu einer »brauchbaren« Geschichte entwickelt hat.

Die Wurzeln reichen Jahrzehnte zurück

Die Wurzeln meiner neuen Erzählung reichen gar einige Jahrzehnte zurück. Damals, ich war um die zwanzig Jahre alt, schrieb ich eine Geschichte über einen jungen Mann, der sich unsterblich verliebt hatte, aber nicht erhört wurde. Er begab sich in die Berge: nur weg aus dieser Welt und hinein in die Einsamkeit! Die junge Frau jedoch, der seine unerwiderte Liebe galt, klopfte während eines Unwetters ausgerechnet an die Tür jenes Hauses, das er seit seinem Weggehen bewohnte – und alles wurde gut. Die Geschichte erschien mir damals als zu kitschig, ein alternatives Ende als zu grausam, also habe ich sie beiseitegelegt, aber nie ganz vergessen können.

In meiner ersten publizierten Erzählung, »SehnSucht«, findet sich, über dreissig Jahre später, das Grundmotiv wieder. Abgewandelt. Dabei hatte ich, als ich auf Rhodos »SehnSucht« schrieb, ursprünglich eher vor Augen, was sich, letztlich wiederum in einen anderen Kontext gestellt, bei »Herzbluten« wiederfindet.

Geschichten reifen lassen

Und so weiter und so fort: meinen Geschichten muss ich viel Zeit und Ruhe zugestehen, damit sie reifen können. Und sie entwickeln sich bis zu einem bestimmten Punkt nicht, indem ich versuche, sie zu Papier zu bringen und einen Entwurf um den anderen schreibe, sondern indem ich, wann immer es mich drängt, eingehend darüber nachdenke, erwäge und verwerfe, in Betracht ziehe und beiseite schiebe, mich in die Personen hineinversetze, durch ihre Augen die Welt beschaue und in ihren Gedanken zu lesen versuche. Erst dann beginne ich zu schreiben. Und unterwegs zum fertigen Text kann trotzdem noch viel geschehen, verändert sich mitunter beinahe alles: Ich lasse meinen Helden viel Raum, sich im Verlaufe unserer gemeinsamen Reise zu entwickeln und unter Umständen ganz andere Wege zu gehen als jene, die ich eigentlich für sie vorgesehen hatte.

Stark verändert

Die lange Reifezeit hat natürlich auch die nun unter dem Titel »Wiederkehr« veröffentlichte Erzählung stark verändert. So ist die Hauptperson seit meinen ersten Versuchen mit mir älter geworden: 61 ist Thomas Wiederkehr, und er arbeitet seit seiner Ausbildung im selben Unternehmen. Er gilt als spröde, verschlossen, gewissenhaft – insgesamt als langweilig. Thomas Wiederkehr ist das durchaus angenehm: Er will und wollte am Arbeitsplatz nie Privates preisgeben.

Sein Leben verläuft in geordneten Bahnen, er hat alles unter Kontrolle und beginnt sich zu überlegen, was er nach seiner Pensionierung in rund vier Jahren tun wird und will. Doch eines Tages stösst er, eine kleine Unaufmerksamkeit, auf einem der Flure in der Firma mit einer jungen Frau zusammen.

Aus den Fugen

Seine Gefühlswelt gerät augenblicklich aus den Fugen. Während der Verstand ihm rät, den Tatsachen in die Augen zu sehen: älterer Herr verliebt sich in eine fast vierzig Jahre jüngere Frau, das ist doch lächerlich!, spricht das Herz eine andere Sprache. Aber welche?

Thomas Wiederkehr entdeckt, dass in seinen Gefühlen etwas mitschwingt, das er nicht einordnen kann. Er flüchtet: in den Süden, in das Haus eines Freundes, um in Ruhe nachzudenken.

Mit den vierzig Jahren, die zwischen meinem ersten Spiel mit diesem Motiv und heute liegen, ist aber nicht nur der Held älter geworden – auch der Ausgang der Geschichte hat sich völlig verändert.

Weshalb immer wieder die Liebe?

Weshalb ich immer wieder über die Liebe zu schreiben versuche? Ich weiss es nicht. Wohl, weil mich das Kleine, das vermeintlich Unscheinbare, das Menschliche und Zwischenmenschliche weitaus mehr interessiert als das scheinbar Weltbewegende. Und weil die Liebe, die beglückende und die unsäglichen Schmerz verursachende, die uns in unbeschreibliche Höhen hebende und in die grässlichsten Tiefen stürzende, die erfüllte und die zurückgewiesene, die manche bis zum Hass führt, letztlich unser gesamtes Dasein bestimmt. Obwohl (oder gerade weil) manche, zu viele, Menschen in dieser auf Rationalität, auf Berechnung, auf Geld, Fortkommen und Erfolg getrimmten Welt dies nie zugäben oder nicht mehr zu erkennen vermögen.

Mehr zum Buch mit Leseprobe gibt es hier.

Hinterlasse eine Antwort