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Martin Andreas Walser

Die kleine Katastrophe

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home_220920Sich aus dem Bürostuhl erheben, hinübergehen ins Wohnzimmer, fünfzehn, vielleicht zwanzig, höchstens aber dreissig Minuten auf dem Sofa liegen, ruhelos innerlich, äusserlich sich zu absoluter Bewegungslosigkeit zwingend, es würde vorbeigehen, es würde sich alles ganz gewiss ergeben: immer wieder in sich hineingesagt, hinüberwechseln in die Küche, Kaffee per Knopfdruck, Fenster öffnen, Zigarette anzünden und ins Freie rauchen, zurück ins Arbeitszimmer, sich wieder hinsetzen, den Bildschirm, die leere Seite, die man geöffnet hat, anstieren, als ob sich da, ohne dass man etwas unternähme, plötzlich Buchstaben, Wörter, Sätze formulieren würden, wenig später alles von vorn: Wohnzimmer, Küche, zurück auf den Bürostuhl, zwischendurch höchstens ein kurzer Gang zur Toilette oder ins Schlafzimmer, die Decke zurückgestreichelt, damit mehr Zeit verginge als beim blossen Zurückwerfen, das Betttuch flachgestrichen, die Kissen aufgeschüttelt, ein weiterer der unzähligen Blicke auf das Zifferblatt der Armbanduhr: kaum viel mehr als eine Stunde vergangen. Zur Nutzlosigkeit verdammt, weil der Kopf nicht will und das Hinausgehen schwerfällt.

Draussen, irgendwo, irgendwann, immer einmal wieder, wird demonstriert «für die Freiheit», es werden unsägliche Vergleiche gezogen zur düstersten, immer noch jüngeren Vergangenheit, es wird lamentiert und gejammert, angeklagt und gedroht, es werden jene Wahrheiten skandiert oder mit aller Schärfe, Beharrlichkeit und Bestimmtheit, von aller Welt einsehbar und nachlesbar, verbreitet, die man als die richtigen, die einzigen bezeichnet, irgendwo werden Grundrechte für Affen eingefordert und Sternchen, diese kleinen, unscheinbaren *, zur Pflicht herbeigeschrieben und herbeiargumentiert und herbeibefohlen, werden Bezeichnungen wegerzwungen, wird getan, als ob dies alles und viel mehr bloss «in Ordnung gebracht» werden müsste, damit es uns allen besser ginge, das Paradies auf Erden greifbar nahe, während andernorts Menschen, ihre Meinungen, Ansichten, Äusserungen, Vorstellungen, Ideen, Proteste, tatsächlich und brutal unterdrückt werden, während andernorts Menschen vertrieben, vergewaltigt, verstümmelt, gefoltert, weggesperrt, erniedrigt, erschossen, gehängt, verscharrt werden, während andernorts Menschen verhungern, während andernorts Bomben auf Unschuldige geworfen und Menschen gezwungen werden, an Kriegen teilzunehmen, die nicht die ihren sind, während Menschen frieren und hungern und in Todesangst leben und all ihrer Hoffnungen nicht nur auf ein besseres Leben, sondern selbst auf das nackte Überleben beraubt werden, wir sehen zu, wie neue Diktaturen entstehen, wie vermeintliche, tatsächliche Grundrechte eliminiert, wie die Umwelt und damit unsere Zukunft zerstört werden. Und dies alles, weil wir keine Zeit finden, uns damit zu befassen, denn wir sind vollkommen ausgelastet mit unserem Streit um kleine Stofffetzen, um Wörter, um *, um was auch immer bis hin zu den Grundrechten für Affen.

Da bleibt auch kein Platz, sich zu fragen, ob zwischen alledem und jenem Lebewesen, das sich nur noch aufzuraffen vermag, um sich vom Bürostuhl auf das Sofa, in die Küche und zurück via Bad oder Schlafzimmer wieder auf den Bürostuhl zu bewegen, eventuell ein Zusammenhang besteht. Zumal jenes Individuum weitestgehend schweigt. Denn diese kleine, diese persönliche Katastrophe könnte von der einen oder einer anderen Seite als «Beweis» vereinnahmt, von diesen oder jenen Kreisen als weinerlich angesichts sprachlicher und anderer Ungerechtigkeiten bezeichnet, als lächerlich – und dies mit einigem Recht – von jenen kritisiert werden, deren Blick auf die tatsächlichen schweren Probleme dieser Welt noch nicht verstellt ist, könnte missverstanden und nicht verstanden werden.

Und damit weiter aufs Sofa.

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