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Martin Andreas Walser

Das Neujahr, das auf Silvester fiel

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Da saßen wir also alle zusammen und feierten den letzten Tag des Jahres und – die Uhr zeigte es an – waren nur noch wenige Minuten davon entfernt, das neue Jahr begießen, pardon: begrüßen zu dürfen. Natürlich war die Stimmung ausgelassen und das Bier noch nicht alle. Peter war stolz auf den russischen Import-Wodka, den er extra gekauft hatte, gleichzeitig aber besorgt, da die Flasche schon fast leer war. Es sei auch noch Wein da, rechtfertigte er sich überflüssigerweise, und dabei handle es sich ebenfalls um einen ganz besonderen Tropfen, denn er komme von weit her, aus Deutschland.

Die ausgeräumte Garage war mit Papierschlangen und manchem mehr geschmückt, Opa stand seit Stunden draußen am Grill, wir saßen fast ebenso lange essend und trinkend drinnen in seinem Reich. Und irgendwo waren die Kinder mit dem Spielzeug beschäftigt, das sie zu Weihnachten geschenkt bekommen hatten.

Unbeschwert wollten wir diesen letzten Tag im Jahr genießen, fröhlich und heiter. Nur der kleine Benjamin hatte kurz die Stimmung getrübt, als er ungewollt die ebenfalls anwesende alte englische Lady von nebenan maßlos erschütterte. »Bamm«, hatte er fröhlich geschrien, als er auf den mit Pampers gepolsterten Hintern geplumpst war, was Lady Gladys natürlich wesentlich vulgärer interpretierte als wir deutschsprachigen Eltern. Geschockt und kreidebleich im Gesicht, saß sie plötzlich noch steifer im Ehrenstuhl, und der Sherry in ihrem Gläschen, das sie bislang derart würdevoll gehalten hatte, wie es die Queen nicht besser gekonnt hätte, schwappte über. Die so sehr auf Etikette bedachte Lady, die noch Königin Victoria wenn nicht persönlich, so doch aus vorbeiziehender Paradennähe gekannt hatte, ließ sich indessen beruhigen. Sie überwand den Schock umso rascher, da man ihr das schlanke Kristall sofort wieder füllte, als sie es uns – eher weniger ladylike – mit einer ruckartigen, raschen Vorwärtsbewegung ihrer zierlichen Hand herausfordernd und Hilfe erheischend hinstreckte.

Alle waren wir also wieder fröhlich gestimmt, heiter und nach den unterschiedlichen Möglichkeiten, den uns der anerzogene Spielraum gewährte, sogar ausgelassen. Die Zungen wurden mit zunehmender Dauer der Feier etwas schwerer, die Lacher etwas spitzer und lauter. Peter war es schließlich, der das lockere Geplauder in der geräumigen, normalerweise zwei Autos beherbergenden Garage mit der Werkbank an der einen und den zur Seite geschichteten Ersatzreifen für den »Falcon« an der gegenüberliegenden Wand in andere Bahnen lenkte. Ohne Absicht natürlich, dreiundzwanzig Minuten vor Mitternacht. Mit einer simplen Frage: »Telefonierst du«, sprach er mich nach längerem Nachdenken mit unschuldig blauen, bedächtig glasiger werdenden Augen an, »jetzt dann gleich nach Hause, um deiner Mutter ein gutes neues Jahr zu wünschen?«

Die Frage mag auf den ersten Blick absolut berechtigt und schon gar nicht ungewöhnlich erscheinen, also gerieten die Gespräche darob vorerst nicht einmal ins Stocken. Es ist jedem Menschen ja völlig und sofort klar, zu welchem Zeitpunkt ein neues Jahr beginnt. Genau um Mitternacht oder dem Bruchteil einer Sekunde danach. Und Mitternacht ist definiert; sie ist auf exakt 24.00 oder 00.00 Uhr festgelegt, kein Problem und kein Spielraum für Interpretationen. Allerdings, und eben darob gerieten wir ins Grübeln und hätten wir schließlich beinahe den entscheidenden Sprung des Sekundenzeigers verpasst, existiert für Anfang und Ende eines Jahres entgegen unserer Wahrnehmung keineswegs ein weltweiter Standard.

Ich war also durchaus stolz, mit meiner Entgegnung trotz fortgeschrittener Feierstunde intellektuelle Schärfe zu beweisen: »Was soll ich denn meiner Mutter mitten am Nachmittag ein gutes neues Jahr wünschen?« Diese Antwort brachte mein Gegenüber etwas aus der Fassung. »In einundzwanzig Minuten beginnt das neue Jahr«, beharrte er nach einem neuerlichen Blick auf seine Armbanduhr auf seiner Sicht des Weltenlaufs, und alle anderen am Tisch bekräftigten diese unumstößliche, allgemeingültige Tatsache. Man hätte sich ja nicht, oder zumindest nicht aus diesem Grund, zu einer Party eingefunden, hätte es nicht genau dies zu feiern gegeben: den Jahreswechsel. Und das neue Jahr – diesbezüglich wurde keine Widerrede geduldet – hatte überall auf dem Erdball exakt zur gleichen Zeit zu beginnen: beim beherzten Sprung des Zeigers von Mitternacht in den 1. Januar. »Das wäre ja noch schöner«, meldete sich jemand von unten am langen Tisch, »würden andere noch im letzten Jahr und wir schon im neuen leben. Unvorstellbar!«

Opa, mit einer weiteren Ladung gegrillten Fleisches in die Runde tretend, legte die Stirn in Falten. Und Oma nickte bedächtig. Noch in Deutschland geboren, wussten sie, wovon ich sprach. »Wer will noch ein Steak?«, rief Opa vorerst, während sich der Blick des zwölfjährigen Matthew verklärte. Er liebte Science-Fiction-Geschichten und war mit den anderen Kindern zurück in die Garage gekommen: »Wenn nicht überall auf der Welt das neue Jahr in exakt derselben Sekunde beginnt, dann sind ja Zeitreisen möglich.« Nicht mit »cool« mischte sich sein kleiner Neffe Alan ein – denn dieser Gebrauch des Wortes war noch nicht erfunden –, also freute sich der Kleine mit einem hellen »Super«: »Dann kann ich künftig mit einem ultraschnellen Flugzeug überall auf der Welt die Weihnachtsgeschenke persönlich abholen und bin zum zweiten Weihnachtstag wieder zurück.« Wir alle wiederum hätten uns sofort nur schon deshalb mit in dieses Flugzeug gesetzt, um auf dieser Reise mehrfach Silvester feiern zu können. »Wo führt das hin«, sinnierte hingegen Bernd, allerdings mit Schalk im Blick, »wenn wir auf dieser Welt nicht einmal mehr sicher sein können, dass das Neujahr nicht auf Silvester fällt?«

Das alles spiele doch gar keine Rolle, ereiferte sich endlich Opa: »Wir feiern hier und jetzt und damit basta. Schließlich leben wir hier und nicht in jenem Teil der Welt, der offensichtlich weniger fortschrittlich ist. Happy New Year!« Womit er den Nagel auf den Kopf traf und wir daran gingen, den deutschen Wein zu entkorken.

Ich rief meine Mutter natürlich an. Sie freute sich außerordentlich: Eben hatte es Mitternacht geschlagen von der katholischen Kirche, deren Glocken sie bei geöffnetem Küchenfenster hörte.

Ob ich sie auf den Arm nehmen wolle, begehrte sie zu wissen. Mitnichten, gab ich zurück. Auf ihre Frage, ob wir schön feierten, hatte ich doch bloß wahrheitsgemäß geantwortet, ich hätte eben Honig auf das Brot gestrichen und den ersten Frühstückskaffee zu mir genommen. Sie murmelte etwas wie »komische Sitten«, dieweil Opa vor sich hin knurrte, als wir uns später im Fernsehen das Neujahrskonzert der Wiener Symphoniker ansahen: »Ein genügend schnelles Fluggerät vorausgesetzt, könnten wir jetzt nach Wien fliegen, um nach dieser Konserve vom letztjährigen das aktuelle Neujahrskonzert live zu genießen.«

Denn dieses hatte an diesem australischen Neujahrstag noch nicht einmal begonnen – drüben in Europa, das eben erst daran war, das neue Jahr willkommen zu heißen.

(Aus: »Zwischenhalt«, Notizen, Gedanken, Texte, 2013, 108 Seiten, Paperback, ISBN 9-783732-244928)

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