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Martin Andreas Walser

Der Mann auf dem Stein (ein Zwischenbericht)

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Florian Meier sass auf dem Stein, auf dem er sich öfter niederliess.

In den Augen wohl vieler Menschen ein banales Faktum.

Und keineswegs ein einmaliges Ereignis, was sich durch das Wort «öfter» verrät.

Aber auch kein alltägliches im strengsten Sinn des Wortes, denn Florian Meier setzte sich zwar öfter auf diesen Stein, aber nicht an jedem Tag. Und öfter zwar, aber nicht regelmässig: Manchmal sass er an mehreren Tagen hintereinander hier, dann wieder einen Tag oder einige Tage lang überhaupt nicht. Bei wenigen Gelegenheiten sogar mehrmals täglich – einmal am Morgen beispielsweise, wenn er nach dem Frühstück hinausging, und später erneut, wenn er sich auf dem Rückweg befand von einem kürzeren oder längeren Spaziergang hier oben über die beinahe menschenleere Ebene oder dort unten, wo ein gut ausgebauter, rege frequentierter Fuss- und Fahrradweg der Küste entlangführte.

Obwohl dieses Bild viele Ansatzpunkte zu weiteren Überlegungen bietet, lässt es uns gähnen. Bald würden wir eingeschlafen sein, oder wir würden nicht weiterlesen, mürrisch etwa oder eventuell gar etwas verärgert: Nichts Aussergewöhnliches – kein Spektakel!

Wir können uns eine Welt ohne rasante Abfolge spektakulärer Ereignisse rund um die Uhr kaum mehr vorstellen. Uns ist bereits eine Stunde, während der sich scheinbar nichts ereignet, nicht geheuer. Wir beginnen uns schon nach wenigen Minuten unwohl zu fühlen, klauben, mit bereits zittrigen Fingern, unsere Mobiltelefone hervor und angeln uns wild durch die verschiedensten Portale und Freundeskreise und News-Plattformen, stets auf der Suche und in der Hoffnung nach etwas, was wir zur Beruhigung unserer Nerven «sensationell» nennen könnten. Mitunter genügt ein neues, unscharfes Blumenbild, das Tante Hilda am Vortag auf ihrem Weg zur Bäckerei mit ihrem Handy geschossen und nun auf ihrem Profil geteilt hat. 37 ihrer Freundinnen, Verwandten und Bekannten haben es, dankbar für die gebotene Abwechslung, bereits gelikt; es fehlen nur noch zehn, bis der Rekord, gehalten vom ebenfalls unscharfen Foto von Nachbars Hund, gebrochen ist.

Alleine die Tatsache, dass Tante Hilda mit ihren fast achtzig Lebensjahren überhaupt ein Handy besitzt, war eine Sensation, als Tante Hilda ihren Kauf vermeldete. Diese Meldung wurde erstens dadurch getoppt, als sich erwies, dass sie mit dem Gerät sogar Fotos zu machen verstand, und zweitens, als man erfuhr, dass sie an der Volkshochschule nicht nur gelernt hatte, wie sie die Bilder in ihrem bevorzugten sozialen Netzwerk veröffentlichen konnte, sondern ihres Wissens in der Folge offenkundig nicht wieder verlustig ging. Nichts gegen Tante Hilda! Nichts gegen ihre Fotos!

Allerdings wird es hier gewagt, einfach einen Menschen auf einem Stein sitzen zu lassen. Vom Sitzenden wurde einleitend nichts weiter verraten, als dass er Florian Meier heisst und sich öfter an diesem Ort aufhält. Ganz schön keck! Oder dumm. Denn so lässt man eine Geschichte nicht beginnen, von der man hofft, nachgerade sehnlich erwartet, sie werde gelesen – von vielen, von ungezählten Menschen, nicht bloss von den wenigen, denen man üblicherweise eine Kopie des Textes schenkt. Wobei man selbst bei diesem an zwei Händen abzählbaren Grüppchen nie sicher sein kann, ob ihm jemand angehört, der jeweils mehr als die ersten Sätze liest.

Wenn überhaupt.

Und selbst wenn wir uns faszinieren liessen von diesem Bild, das einen auf einem Stein sitzenden Mann zeigt, vor seinen Augen das weite, offene Meer, die Sonne, die darübersteht, und am linken und rechten Rand des Himmels einige von ihr dramatisch angeleuchtete Wolken, von Weiss bis Dunkelgrau in allen Schattierungen scharf konturiert, so liesse uns dies nicht genügend lange innehalten, um es bewusst zu erfassen.

Weshalb bleiben wir nicht stehen und betrachten für einige Minuten oder länger dieses Bild? Die Landschaft und diesen Mann, der auf dem Stein sitzt, auf einem Gesteinsbrocken von beachtlicher Grösse, dunkel, fast schwarz wie beinahe alles Gestein auf dieser Insel, und die Oberfläche, anders als bei vielen anderen Brocken, die es hier zuhauf gibt, derart eben und glatt, dass sich der Mann, von dem wir aus unserer Position lediglich den Rücken sehen sowie den Hinterkopf, das Weiss des bis in den Nacken fallenden Haars hat fast ganz über das ursprüngliche Braun gesiegt, bequem ausstrecken könnte, wenn er wollte, um auf dem Rücken liegend in den Himmel zu sehen. Weshalb lassen wir es nicht zu, in solchen Momenten gleich dem Mann auf dem Stein zur Ruhe zu kommen, einmal einfach nichts anderes zu tun als zu bewundern, zu schweigen, zu schauen, eventuell ein wenig nachdenklich zu werden und ihn als beglückend zu empfinden, diesen Blick auf eine Welt, in der sich für einmal nichts tut?

Dieser Mann, Florian Meier, wie wir uns erinnern, 64 Jahre alt, seit vier Jahren pensioniert, sitzt regungslos da.

Von unserem Standort aus lässt sich nicht erkennen, ob es sich um einen lebenden Menschen handelt oder um eine Skulptur.

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