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Martin Andreas Walser

Weshalb die Geschichte von der heilen Welt ungeschrieben blieb

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Er gedenke, eine Geschichte zu schreiben, hob er an, erfüllt von Harmonie und Liebe, angesiedelt in einer lieblichen Landschaft, unweit das Meer, darüber ein wolkenlos blauer Himmel, und bevölkert mit friedvollen, fröhlichen, aufrichtigen, ehrlichen Menschen.

«Das geht gar nicht», knurrte an dieser Stelle A., «ich mag kein Meer. Stehe ich an einem Strand und blicke ich in die scheinbare Unendlichkeit, so werde ich wehmütig, was direkt in eine Depression mündet.»

«Wie wär’s mit einem kleinen See inmitten der Berge?», schlug darauf B. vor.

«Und mit Schnee, viel Schnee, das wäre schön», fügte C. an.

D. blickte mürrisch vor sich hin: «Lauter friedvolle, fröhliche, aufrichtige, ehrliche Menschen? Wie langweilig ist das denn!»

«Mindestens ein Widerling muss dabei sein», forderte E. ultimativ.

«Und ein ungelöster Mordfall.» F. blickte erwartungsfroh in die Runde. «Er kann ja in grauer Vorzeit geschehen sein, damit diese heile Welt keinen Schaden leidet.»

«Ach was», warf G. ein, «wenn schon, denn schon. Wir wollen live dabei sein, wenn einer abgestochen wird.»

«Abgestochen?», entsetzte sich H. «Ich schlage Gift vor. Kein Blut, kein Geschrei, aber dasselbe Resultat.»

«Sie sollen sich gegenseitig das Leben zur Hölle machen», forderte I., «eine heile Welt ist sowas von kitschig.»

«…und weltfremd», ergänzte J. und dozierte: «Wer eine Geschichte erzählt, der hat sich an den politischen und gesellschaftlichen Realitäten zu orientieren, diese aufzunehmen und deutlich Stellung zu beziehen.»

«Exakt!», ergriff nun auch K. das Wort. «Deshalb gehört eine Gruppe sogenannter Flüchtlinge in die Geschichte hinein, die diesen vermeintlichen Frieden zu zerstören trachtet.»

«Sie vergewaltigen eine der Frauen», liess L. sich vernehmen.

«Worauf das Opfer aus der Gruppe verstossen wird», bemerkte M. trocken, «denn die Männer geben der Frau die Schuld, weil sie in einem knappen Bikini baden ging.»

«Überhaupt die Männer», gab N. zu bedenken, «sie haben diese heile Welt ausschliesslich nach ihren Vorstellungen und zum einzigen Zweck geschaffen, um die Frauen weiterhin nach Belieben unterdrücken zu können.»

«Wie kann man heutzutage überhaupt in Betracht ziehen, von einer heilen Welt erzählen zu wollen», wechselte darauf O. das Thema, «denken wir doch bloss an die Umweltverschmutzung, die Erderwärmung, die drohende Klimakatastrophe.»

Das brachte P. auf eine Idee: «Der Meeresspiegel wird im Verlauf der Geschichte steigen und steigen und das Paradies überfluten…»

«…und die friedvollen Menschen müssen sich auf Bäumen in Sicherheit bringen…», fuhr Q. fort.

«…und werden so wieder zu den Affen, von denen wir bekanntlich abstammen…», nahm R. den Faden auf.

«Sie werden froh sein», lachte S., «dass sie rechtzeitig gelernt haben, auf Fleisch zu verzichten, denn nun gibt es bloss noch Blätter zu essen.»

«Es sei denn, es handelt sich um Nussbäume oder um Apfelbäume oder was weiss ich. Dann werden sie überleben», brachte T. Abwechslung in den Speisenplan.

«Aber sie haben Kinder gezeugt. Also droht aufgrund der absehbaren Übervölkerung dennoch der Hungertod», blieb U. realistisch.

«Überhaupt Sex», wandte V. ein und wirkte verlegen, «ich möchte, dass diese friedvollen, fröhlichen, aufrichtigen, ehrlichen Menschen schönen, zärtlichen, gefühlvollen Sex miteinander haben und dies Teil der Geschichte wird.»

Dieser romantische Einschub wurde geflissentlich überhört, denn W. posaunte heraus: «Sie werden fliehen müssen. Schwimmend erreichen sie nach vielen Stunden vollkommen erschöpft einen scheinbar menschenleeren Strand…»

«Menschenfresser?», mutmasste X.

«Quatsch», warf Y. ein, «die dortigen Bewohner sind vor dem steigenden Meeresspiegel geflohen, und den Neuankömmlingen wird rasch klar, dass sie lediglich ein Zwischenziel erreicht haben.»

«Doch just in diesem Moment», beendete Z. die Diskussion, «hat der irre Präsident genug von dieser schrecklichen Welt und löst die nukleare Katastrophe aus.»

Deshalb gibt es sie nicht, die Geschichte, erfüllt von Harmonie und Liebe, angesiedelt in einer lieblichen Landschaft, unweit das Meer, darüber ein wolkenlos blauer Himmel, und bevölkert mit friedvollen, fröhlichen, aufrichtigen, ehrlichen Menschen.

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