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Martin Andreas Walser

Dass (fast) alles ganz anders sein könnte

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Dass (fast) alles ganz anders sein könnte: diese Vermutung beschäftigt mich nicht erst, seit ich Geschichten schreibe. Hier aber habe ich mitunter versucht, ihn zuzulassen, diesen Zweifel, ja: mit ihr zu spielen, der Möglichkeit, alles könnte sich in Tat und Wahrheit ganz anders zugetragen haben, als ich es darstelle.

Dieses oder jenes Buch lasse der Fantasie viel freien Raum, freuen wir uns mitunter oder loben wir ein Werk, je nachdem, ob wir darin definitive Lösungen oder Ansätze zum Träumen, zum Nachdenken, zum Weiterspinnen einer Geschichte gesucht haben. Mitunter lesen wir gar Bücher beinahe ausschliesslich unter diesem Aspekt. Bei Krimis ist er mitunter ein absolutes Muss, denn wir müssen uns ständig bewusst sein, dass man uns allenfalls in die Irre führen will, dass falsche Fährten gelegt werden, damit die Spannung erhalten bleibt, dass der Täter, den man uns scheinbar auf dem Silbertablett präsentierte, nichts mit der Sache zu tun hatte, und die Umstände, die zu seinem Verbrechen geführt haben, ganz andere waren, als man uns über weite Strecken der Geschichte glauben zu machen versuchte.

Eigenartig, denke ich manchmal, dass viele, zu viele, wir alle mitunter, bei vielem, was wir als Nachrichten und als seriöse Berichterstattung vorgesetzt erhalten, diese kritische Haltung beiseite schieben. Wir wollen glauben, was wir sehen und hören und lesen, wir pflichten sogleich und ohne jeglichen Vorbehalt dem Geschriebenen, Gehörten, Gesehenen zu. Nicht, dass ich behaupten will, wir würden in jedem Fall bewusst in die Irre geführt, aber dass wir manchmal selbst mit scheinbar objektiven Bilder durchaus getäuscht werden, ist uns eigentlich schon bewusst.

Woher rührt er, dieser Glaube, dass, wie wir früher sagten, »wahr ist, was gedruckt steht«? Und weshalb geben wir uns damit zufrieden, was uns Schwarz auf Weiss oder in bunten Farben und bewegten Bildern entgegentritt? Es könnte doch immerhin alles oder etwas ganz anders gewesen sein oder es könnten wesentliche Informationen fehlen!

Manchmal kommt die Wahrheit ans Licht und werden sogar Gründe transparent, die zu einer Täuschung geführt haben. Ein vergleichsweise, trotz der Tragik harmloses Beispiel aus meiner Zeit als Journalist: Ein Flugzeugabsturz, bei dem viele Menschen ums Leben kamen, sei darauf zurückzuführen, meldeten die Nachrichtenagenturen, natürlich übereinstimmend: die Quelle war bei allen dieselbe, dass zur fraglichen Zeit die Wetterverhältnisse im fraglichen Gebiet miserabel gewesen seien; deshalb wohl sei das Flugzeug zu tief geflogen und gegen einen Berg geprallt. Blödsinn, meldete sich Tage danach ein Pilot bei mir: er sei zur nämlichen Zeit über dasselbe Gebiet geflogen – und dies bei wolkenlosem Himmel. Später stellte sich heraus: Die betroffene Gesellschaft hatte vertuschen wollen, dass ihre »zugemieteten« Piloten der englischen Sprache kaum mächtig waren und sich die Katastrophe wegen Verständigungsproblemen ereignet hatte (die den Verantwortlichen sehr wohl bekannt gewesen sein mussten).

Vielfach, dies habe ich ebenfalls gelernt und höre trotzdem nicht auf, mich zu wundern, interessiert die »Wahrheit« niemanden sonderlich. Abgestumpft? Gleichgültig? Hat die Botschaft endgültig verfangen, wir könnten sowieso nichts ändern? Wikileaks? Schnee von gestern. NSA? Was geht uns das an? Die Themen und die Skandale kommen und gehen und niemand scheint sich zu wundern, sind sie plötzlich von den Frontseiten verschwunden.

Die Frage aber bleibt, und sie beschäftigt mich in meiner im Entstehen begriffenen neuen Geschichte, ob wir, die wir diese Zweifel und Vermutungen doch in uns spüren, uns nicht eine Mitschuld aufladen, indem wir zu sehr glauben, statt zu fragen, und – vor allem – indem wir für uns behalten, was wir erkannt haben.

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