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Martin Andreas Walser

An Tagen wie dem heutigen

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An Tagen wie dem heutigen, dies hängt, will ich gleich einfügen, weniger mit dem Datum, dem Umstand also zusammen, dass wir Weihnachten feiern, sondern eher mit den grauen Nebeln, die bis auf die Wiese auf der anderen Strassenseite reichen und alles verhüllen, was sich hinter den kahlen Bäumen befindet, an solchen Tagen also sehne ich mich nach dem Mystischen, nach dem nicht Erklärbaren, das sich weitgehend aus unserem Leben verabschiedet zu haben scheint. Das Staunen, das Rätseln, sie sind uns weitgehend abhanden gekommen, scheint mir.

An Tagen wie dem heutigen wünschte ich mir eine Zeit – ich muss wohl, obwohl ich sie mir als in die Zukunft führende Gegenwart ersehne, gleich anfügen: «zurück», denn auch dieses Rad wird sich kaum zurückdrehen lassen –, in der es selbst im normalen, dem biederen, dem «langweiligen» Alltag wieder kleine und grössere Geheimnisse gäbe, Wunder, die Erstaunen auslösen, Dinge und Erscheinungen und Begebenheiten, die uns länger rätselhaft und phantastisch und überraschend erscheinen und worüber wir länger nachdenken, uns intensiver austauschen würden als bloss für die wenigen Sekunden, bis jemand zum Handy gegriffen und im Internet eine Erklärung gefunden oder wenigstens diese und jene Theorie aufgestöbert hätte, die das Phänomen erklärt. Obwohl es schwer ist zu unterscheiden, was richtig, was falsch, was möglich, wahrscheinlich, was eher oder «ganz sicher» ausschliessbar ist, werden wir, was das Internet als Weisheit und Wahrheit anzeigt, als Beleg dafür nehmen, dass das vermeintliche Rätsel gelöst ist, bevor wir uns länger mit dem Phänomen beschäftigen mussten, konnten, durften. Es werden uns so das Rätseln, das Phantasieren, das Grübeln, letztlich das selbstständige Denken genommen. Ersetzt wird es durch den Glauben an diese oder jene wissenschaftliche Erkenntnis. Erstaunlich ausgerechnet in einer Welt und Zeit, in der dem Glauben in religiösem Sinn mit grösster Skepsis bis hin zur Abneigung begegnet wird.

Während wir uns befleissigen, mit Inbrunst zu bekräftigen, an «nichts» zu glauben, glauben wir in anderen als religiösen Zusammenhängen gleichzeitig an so vieles. Etwa, dass ein Verbot von Verbrennungsmotoren und die Hinwendung zu elektrisch betriebenen Verkehrsmitteln unsere Erde rettet (aber auch nur, wenn oder weil wir daran glauben, die umweltfreundliche Erzeugung genügender Mengen elektrischer Energie werde gelingen), wir glauben daran, Flüchtlingsströme liessen sich durch Zuwanderungsobergrenzen eindämmen (aber auch nur, wenn oder weil wir gleichzeitig glauben, die Ursachen zur Flucht liessen sich «politisch» beseitigen), wir glauben daran, dass Gesetze und Verbote aus potenziell «schlechten» durchs Band «gute» Menschen machen, wir glauben daran, dass es Wissenschaft und Forschung «rechtzeitig» gelingt, auch die gravierendsten, überlebensbedrohenden Probleme zu lösen, wir glauben an so vieles. Wir werden zwar bestreiten, uns selber gegenüber dieses und jenes Glaubensbekenntnis abgelegt zu haben und korrigieren, es ginge dabei lediglich um Hoffnung (die bekanntlich «zuletzt sterbende»).

Hoffnung lässt immerhin den Zweifel zu. Dieser Zweifel könnte uns weiterbringen – aber bloss, wenn hinter ihm nicht der Glaube steht, dass, wie auch immer, letztlich auch ohne unser aktives Zutun alles gut wird.

An Tagen wie dem heutigen jedenfalls wünsche ich mir mehr Geheimnisvolles, mehr Unbekanntes in dieser Welt. Und also schreite ich durch die Nebel hindurch, die sich bis auf die Wiese auf der anderen Strassenseite gesenkt haben, und ich stelle mir vor, dahinter nicht die bekannten Haussilhouetten vorzufinden, wie sie sich meinem Auge bei schönerem Wetter präsentieren, sondern eine andere, eine unbekannte Welt, die ich erforschen werde, eine Welt voller Geheimnisse, gespickt mit Unbekanntem, Unerklärlichem, Überraschendem. Eine friedliche Welt, die verblüfft, mich staunen lässt, mich erfreut, durch die Kraft positiver Gedanken gestaltbar wird. Die Phantasie, denke ich, die Phantasie droht uns verloren zu gehen, die Phantasie, unserem Denken entsprungen und unser Denken beflügelnd, die Phantasie, die Visionen ermöglicht und erschafft. Ich aber möchte alle einladen, in dieses Abenteuer aufzubrechen und diese helle, weite, sonnenbeschienene Ebene zu durchschreiten, in der alles möglich scheint und der Phantasie keine Grenzen gesetzt sind…

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