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Martin Andreas Walser

Der steile Aufstieg und Fall des Wahrheitsspiegels

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Da stand nun, endlich, in seinem Schlafgemach, was er am Vorabend in einem seiner Tweets als «die bahnbrechendste Erfindung der Menschheitsgeschichte» angepriesen hatte: Ein beinahe raumhoher Spiegel, «bis obenhin gefüllt mit künstlicher Intelligenz»: Stelle man sich vor ihn und richte eine Frage an das Wunderding, so antworte es stets mit der «Wahrheit, nichts als der Wahrheit». Die «besten Forscher dieses Erdballs», nämlich jene des eigenen Landes, hätten den Spiegel entwickelt. «Wir verabschieden uns hiermit von den Fake News, denn dieser Spiegel wird jederzeit und zu jedem erdenklichen Thema die absolute Wahrheit liefern.»

Er würde mit einfachen Fragen beginnen, beschloss der Besitzer des Spiegels – somit: «Wer ist der wichtigste Mann dieses Landes?»

«Du bist der wichtigste Mann dieses Landes.»

«Wer ist der intelligenteste Mann dieses Landes?»

«Du bist der intelligenteste Mann dieses Landes.»

«Wer ist der schönste Mann dieses Landes?»

«Du bist der schönste Mann dieses Landes.»

«Wer ist der mächtigste Mann dieses Landes?»

«Du bist der mächtigste Mann dieses Landes.»

Obwohl er von alledem längst überzeugt war, erfreuten ihn die Antworten: Endlich war  erwiesen, dass der absoluten Wahrheit entsprach, was er selber stets geahnt hatte. Also tat er dies seiner Twitter-Fangemeinde entsprechend kund.

Die Reaktionen fielen unterschiedlich aus. Viele meinten zum Beispiel: «Du hast die Frage nur auf den Mann beschränkt – doch die Frauen sind allemal wichtiger, intelligenter, schöner und mächtiger als du.»

Der Besitzer des Spiegels war etwas irritiert.

Er wiederholte am kommenden Tag die Fragen, ersetzte allerdings das Wort «Mann» durch «Mensch.» Die Antworten waren erneut eindeutig.

«Keine Chance, Jungs und Girls», schrieb er, «der Spiegel hat bestätigt, dass es auch keine Frau in diesem Land gibt, die an mich heranreicht.»

Doch wieder kamen Einwände: «Jedes Mäuschen ist intelligenter als du – du hast bloss nach den Menschen gefragt.»

Für den dritten Versuch ersetzte er somit «Mensch» durch «Lebewesen».

Das Resultat blieb dasselbe.

Und wieder wurde er verhöhnt: «Vielleicht in diesem Land – aber tief in Afrika sitzt ein Lebewesen, das ist wichtiger und intelligenter und schöner und mächtiger als du.»

Er, der die ganze Zeit über relativ ruhig und gelassen geblieben war, was seine Umgebung und die Öffentlichkeit erstaunte, verlor nun langsam doch die Nerven. Er beschloss, das Verfahren abzukürzen. Also rief er am folgenden Morgen ein Video-Team in sein Schlafgemach, baute sich in seinem Schlafanzug, worüber er einen Bademantel trug, während seine Füsse in putzigen Pantoffeln steckten, auf denen die Konterfeis von Duck Onkel und Duck Neffe prangten, vor dem Spiegel auf und fragte: «Wer ist das bedeutendste Lebewesen aller Zeiten des gesamten Universums?»

«Du bist das bedeutendste Lebewesen aller Zeiten des gesamten Universums.»

Dieses Video liess er sogleich veröffentlichen und schrieb dazu: «Damit ist alles geklärt.»

Kommentare blieben weitgehend aus. Ob seine Kritiker es müde waren, sich täglich mit solchen Lappalien zu befassen oder ob sie aus blossem Mitleid schwiegen, bleibe dahingestellt.

Das bedeutendste Lebewesen aller Zeiten aber befragte den Spiegel weiterhin täglich. Wer über Krieg und Frieden entscheide, wer allen Menschen Wohlstand bringe, wer der Garant für eine blühende Zukunft über Jahrmillionen hinaus sei – alle Antworten fielen zu seiner vollen Zufriedenheit aus.

Aber selbst der Fragesteller begann sich zu langweilen, denn immerhin bestätigte der Spiegel ja bloss, wovon er seit jeher überzeugt war.

Also fragte er eines Morgens, weil er sich mehr Informationen über seine Gegner erhoffte: «Wer ist die grösste Gefahr für unseren Planeten?»

Die Antwort kam postwendend: «Du bist die grösste Gefahr für unseren Planeten.»

Der abendliche Tweet fiel klar und deutlich aus: «Meine Feinde haben den Spiegel gehackt. Er verbreitet nur noch Fake News. Ich werde nicht ruhen, bis sie alle in der Hölle schmoren.»

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