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Martin Andreas Walser

Eben gelesen: «Der Widersacher» (Emmanuel Carrère)

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Eine Neuübersetzung von Carrères Roman “Amok” (1999/2001). Vorerst: Ich habe weder den französischen Originaltext gelesen noch die Erstübersetzung, kann somit keine Vergleiche anstellen und weiss nicht, ob und weshalb sich eine Neuübersetzung “aufgedrängt” haben könnte.

Als reine Fiktion würde man die Geschichte wohl als eher unglaubwürdig bezeichnen: Dass jemand sich 18 Jahre lang als erfolgreicher Arzt und Forscher bei der WHO ausgeben kann, während er in Tat und Wahrheit nichts, absolut nichts tut, dass seine Gattin nie Verdacht schöpft, obwohl sie ihren Mann nie auch nur im Büro anrufen kann, dass seine Eltern, die Schwiegereltern, die Freundin und Bekannte sich viel Geld abknöpfen lassen für angebliche Anlagen, ohne misstrauisch zu werden – unglaublich. Carrére jedoch breitet eine wahre Geschichte aus, jene von Jean-Claude Romand, der am 9. Januar 1993, als nach all diesen Jahren sein Lügengebäude doch noch einzustürzen drohte, erst seine Frau, seine Kinder, seine Eltern und deren Hund erschoss und seine Geliebte zu töten versuchte (um sie anschliessend nach Hause zu fahren, ohne dass sie danach die Polizei alarmiert hätte) und endlich einen Selbstmordversuch unternahm, von dem man vermutet, Romand habe ihn bewusst so dilettantisch inszeniert, dass er gerettet werden konnte. Carrère wertet nicht, er deckt Schicht um Schicht von Romands angeblich erfülltem (Berufs)leben ab, bis sich dahinter eine absolute Leere offenbart – die der verurteilte Häftling Romand sogleich mit einem neuen, angeblich “wahren” Lebensmuster ausfüllt.

Man kann sich durchaus fragen, weshalb man ausgerechnet jetzt dieses Buch lesen sollte, zumal es keine Informationen zum weiteren Verbleib von Jean-Claude Romand enthält, der gemäss Urteil 2015 theoretisch aus der Haft hätte entlassen werden können, weder im Text oder einem möglichen Nachwort oder im angefügten Gespräch zwischen dem Autor und der Übersetzerin Claudia Hamm. Und dann denkt man plötzlich an einen anderen notorischen Lügner, der zwar eine ganz andere Position als Romand besetzt, allerdings tatsächlich, statt nur behauptet. Und man beginnt sich zu überlegen, ob es in der Psyche dieser beiden Menschen nicht (unübersehbare) Parallelen gibt … Dann aber lautete die Frage, weshalb auch in diesem Fall viele bloss zuschauen, selbst deutliche Zeichen nicht deuten und im Zweifelsfall lieber glauben, statt zu hinterfragen.

Apropos Glaube: Der Titel (“Der Widersaacher”) weist auf einen der Namen des Teufels hin – hier zumindest ist die Neuübersetzung konsequenter und korrekter als bei der ursprünglichen Titelgebung.

Leider weist die (1. Auflage der) Neuübersetzung einige Fehler auf, darunter vorab offensichtlich falsche Trennungen, zB. “Pate-nonkel”, die – wenigstens auf mich – irritierend wirken.

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