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Martin Andreas Walser

Ray Bradbury: Fahrenheit 451 – oder: Von den Denkanstössen

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Was diese spezielle Zeit mit mir anstellt (9)

Lieblingsbücher sind ganz spezielle Bücher, nicht zwingend “die wichtigen”, nicht unbedingt jene, die “einen geprägt” haben, Bücher halt, die man noch mehr liebt als die anderen – und mit denen meist eine Geschichte verknüpft ist, eine Erinnerung, die eine bessere Chance hat, wieder wach zu werden in Zeiten wie dieser. Lieblingsbuch 8/10 …

IMG_20200525_100436~2Weshalb man dem Buchumschlag meiner Ausgabe von Ray Bradburys «Fahrenheit 451» die Untertitel «Science Fiction» und «Ein utopischer Roman» beigefügt hat, war mir unbegreiflich, meine ich mich zu erinnern (die Gewissheit, sich exakt erinnern zu können, nimmt leider mit zunehmendem Alter ab), weil dergestalt dieses Buch in die Nähe der Fantasie und somit des frei Erfundenen rückt, unbewusst, aber immerhin, sodass man es eventuell liest und sich stets in der trügerischen Gewissheit wiegt, dass nie eintreten wird, nie eintreten kann, wovon hier berichtet wird – und sich beruhigt zurücklehnt: «Das ist ja bloss eine Geschichte.» Und so bleibt die zentrale Frage ungestellt: Ob wir uns nicht längst auf dem Weg befänden hin zu diesem oder einem ähnlichen totalitären System.

Das Verbrennen der Bücher oder besser: das Abbrennen von Häusern, in denen sich noch Bücher befinden, durch die Feuerwehr ist lediglich ein Symbol, das Mittel zum Zweck, die Kulturgeschichte zu tilgen und mit der Vernichtung der Bücher gleichzeitig das Denken zu eliminieren; dahinter steht das System, das viel tiefer greift. So gibt Faber, den der Feuerwehrmann Guy Montag aufsucht, an einer Stelle zu bedenken: «Die Leute haben von selber aufgehört zu lesen. (…) Die Leute haben doch ihr Vergnügen.»

Damit nahm er die Befürchtung von Aldous Huxley («Schöne neue Welt») auf, dass es einst keinen Grund gäbe, ein Buch zu verbieten, weil niemand mehr lesen wolle. Darauf zielt auch eine Passage in Rob Harts «The Store» (2019), einem, in meinen Augen, ansonsten ziemlich mässigen Buch, ab, wo der Held, Paxton, mit der Behauptung konfrontiert wird, gewisse Bücher würden vom grossen, weltbeherrschenden Online-Konzern erst nach Wochen oder überhaupt nicht ausgeliefert: «Das liegt daran, dass wir diese Geschichten nicht mehr lesen sollen.» Paxton findet allerdings heraus, dass der wahre Sachverhalt «viel einfacher» ist: Diese Titel seien zwar lieferbar, würden aber nicht mehr nachgefragt.

Da stellt sich doch die Frage, weshalb dem – allenfalls – so ist, ob es also auch andere als «natürliche» Ursachen gibt, weshalb manches nicht mehr verlangt wird. Neil Postman konstatierte 1985 (in «Wir amüsieren uns zu Tode»), die Vermittlung von Wahrheit, Wissen und Erziehung, wie sie das Fernsehen betreibe, propagiere eine Gesellschaft, welche die Zerstreuung und Oberflächlichkeit der Ernsthaftigkeit vorziehe, Bilder statt Wörter als Argument bevorzuge und das Denken häufig als anstrengend und wenig unterhaltsam empfinde. Da war das Internet noch nicht einmal in Betracht zu ziehen.

Wie sehr wir uns der heutigen Konsum- und Vergnügungsgesellschaft einverleibt haben, liesse sich allenfalls daraus ablesen, welche «Freiheiten» in dieser Krise vorrangig «zurückverlangt», also anscheinend hauptsächlich vermisst werden: Partys, Feste, Reisen, Sportveranstaltungen – das Vergnügen –, und es waren ausserdem tatsächliche oder herbeigeredete und herbeigeschriebene Einschränkungen im Konsum, die breite Kritik fanden – Toilettenpapier oder Gartenerde als Platzhalter. Dazwischen gab es einige weniger laute Stimmen, die sich für die Wiedereröffnung von Buchhandlungen stark machten, während die Sorgen der Kulturschaffenden kaum zu Widerhall führten und mir nicht bewusst ist, einen Protest für die sofortige Wiedereröffnung von Theatern, Opernhäusern, Musiksälen, Museen usw. wahrgenommen zu haben.

Es tut – mir – gut, mich in Zeiten wie dieser in Ruhe, mit Musse, in meinen Bücherregalen umzusehen und frühe Lieblingsbücher wie «Fahrenheit 451» wiederzufinden. Ich entdecke auf diesen derzeit täglichen Entdeckungsreisen gewissermassen das Lesen neu, weniger denn je als Anlass zur Unterhaltung und Zerstreuung, sondern (auch) als Anstoss, über vieles intensiver nachzudenken.

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